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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, viertes Capitel.
Diese schöne Kunst ist eine von denen, in welchen nur
den Hofleuten gegeben ist, Meister zu seyn. Man könnte
die Tugend selbst herausfordern, in einem höhern Grad
und mit besserm Anstand Tugend zu scheinen, als diese
Leute es in ihrer Gewalt haben, so bald es ein Mit-
tel zu ihren Absichten werden kan, die eigenste Mine,
Farbe, und äusserliche Grazie derselben an sich zu
nehmen.

Was wir hier sagen, versteht sich insonderheit von
zweenen, welche bey dieser Veränderung des Tyrannen
am meisten zu verliehren hatten. Philistus war bisher
der vertrauteste unter seinen Ministern, und Timocra-
tes sein Liebling gewesen. Beyde hatten sich mit einer
Eintracht, welche ihrer Klugheit Ehre machte, in sein
Herz, in die höchste Gewalt, wozu er nur seinen Na-
men hergab, und in einen beträchtlichen Theil seiner
Einkünfte getheilt. Jzt zog die gemeinschaftliche Ge-
fahr das Band ihrer Freundschaft noch enger zusam-
men. Sie entdekten einander ihre Besorgnisse, ihre Be-
merkungen, ihre Anschläge; sie redeten die Maßregeln
mit einander ab, die in so critischen Umständen genom-
men werden mußten; und giengen, weil sie die schwache
Seite des Tyrannen besser kannten, als irgend ein and-
rer, mit so vieler Schlauheit zu Werke, daß es ihnen
nach und nach glükte, ihn gegen Platon und Dion ein-
zunehmen, ohne daß er merkte, daß sie diese Absicht
hatten.

Wir
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Neuntes Buch, viertes Capitel.
Dieſe ſchoͤne Kunſt iſt eine von denen, in welchen nur
den Hofleuten gegeben iſt, Meiſter zu ſeyn. Man koͤnnte
die Tugend ſelbſt herausfordern, in einem hoͤhern Grad
und mit beſſerm Anſtand Tugend zu ſcheinen, als dieſe
Leute es in ihrer Gewalt haben, ſo bald es ein Mit-
tel zu ihren Abſichten werden kan, die eigenſte Mine,
Farbe, und aͤuſſerliche Grazie derſelben an ſich zu
nehmen.

Was wir hier ſagen, verſteht ſich inſonderheit von
zweenen, welche bey dieſer Veraͤnderung des Tyrannen
am meiſten zu verliehren hatten. Philiſtus war bisher
der vertrauteſte unter ſeinen Miniſtern, und Timocra-
tes ſein Liebling geweſen. Beyde hatten ſich mit einer
Eintracht, welche ihrer Klugheit Ehre machte, in ſein
Herz, in die hoͤchſte Gewalt, wozu er nur ſeinen Na-
men hergab, und in einen betraͤchtlichen Theil ſeiner
Einkuͤnfte getheilt. Jzt zog die gemeinſchaftliche Ge-
fahr das Band ihrer Freundſchaft noch enger zuſam-
men. Sie entdekten einander ihre Beſorgniſſe, ihre Be-
merkungen, ihre Anſchlaͤge; ſie redeten die Maßregeln
mit einander ab, die in ſo critiſchen Umſtaͤnden genom-
men werden mußten; und giengen, weil ſie die ſchwache
Seite des Tyrannen beſſer kannten, als irgend ein and-
rer, mit ſo vieler Schlauheit zu Werke, daß es ihnen
nach und nach gluͤkte, ihn gegen Platon und Dion ein-
zunehmen, ohne daß er merkte, daß ſie dieſe Abſicht
hatten.

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[119/0121] Neuntes Buch, viertes Capitel. Dieſe ſchoͤne Kunſt iſt eine von denen, in welchen nur den Hofleuten gegeben iſt, Meiſter zu ſeyn. Man koͤnnte die Tugend ſelbſt herausfordern, in einem hoͤhern Grad und mit beſſerm Anſtand Tugend zu ſcheinen, als dieſe Leute es in ihrer Gewalt haben, ſo bald es ein Mit- tel zu ihren Abſichten werden kan, die eigenſte Mine, Farbe, und aͤuſſerliche Grazie derſelben an ſich zu nehmen. Was wir hier ſagen, verſteht ſich inſonderheit von zweenen, welche bey dieſer Veraͤnderung des Tyrannen am meiſten zu verliehren hatten. Philiſtus war bisher der vertrauteſte unter ſeinen Miniſtern, und Timocra- tes ſein Liebling geweſen. Beyde hatten ſich mit einer Eintracht, welche ihrer Klugheit Ehre machte, in ſein Herz, in die hoͤchſte Gewalt, wozu er nur ſeinen Na- men hergab, und in einen betraͤchtlichen Theil ſeiner Einkuͤnfte getheilt. Jzt zog die gemeinſchaftliche Ge- fahr das Band ihrer Freundſchaft noch enger zuſam- men. Sie entdekten einander ihre Beſorgniſſe, ihre Be- merkungen, ihre Anſchlaͤge; ſie redeten die Maßregeln mit einander ab, die in ſo critiſchen Umſtaͤnden genom- men werden mußten; und giengen, weil ſie die ſchwache Seite des Tyrannen beſſer kannten, als irgend ein and- rer, mit ſo vieler Schlauheit zu Werke, daß es ihnen nach und nach gluͤkte, ihn gegen Platon und Dion ein- zunehmen, ohne daß er merkte, daß ſie dieſe Abſicht hatten. Wir H 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/121>, abgerufen am 21.11.2024.