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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
dem Verhältniß, so wie sich, von einem Augenblik zum
andern, die Vorzüge und Talente unsers Helden ent-
wikelten. Jn der That besaß er deren so viele, daß
der Neid der Höflinge, der in gleicher Proportion von
Stunde zu Stunde stieg, gewisser massen zu entschuldi-
gen war; die guten Leute würden sich viel auf sich selbst
eingebildet haben, wenn sie nur diejenigen Eigenschaf-
ten, in einem solchen Grad, einzeln besessen hätten,
welche in ihm vereinigt, dennoch den geringsten Theil
seines Werthes ausmachten. Er hatte die Klugheit,
anfänglich seine gründlichere Eigenschaften zu verbergen,
und sich bloß von derjenigen Seite zu zeigen, wodurch
sich die Hochachtung der Weltleute am sichersten über-
raschen läßt. Er sprach von allem mit dieser Leichtig-
keit des Wizes, welche nur über die Gegenstände dahin-
glitscht, und wodurch sich oft die schaalesten Köpfe in
der Welt (auf einige Zeit wenigstens) das Ansehen,
Verstand und Einsichten zu haben, zu geben wissen. Er
scherzte; er erzählte mit Anmuth; er machte andern
Gelegenheit sich hören zu lassen; und bewunderte die
guten Einfälle, welche dem schwazhaften Dionys unter
einer Menge von mittelmässigen und frostigen zuweilen
entsielen, mit einer Art, welche, ohne seiner Aufrichtig-
keit oder seinem Geschmak zuviel Gewalt anzuthun, die-
sen Prinzen überzeugte, daß Agathon unendlich viel Ver-
stand habe.

Die grossen Herren haben gemeiniglich eine Lieblings-
Schwachheit, wodurch es sehr leicht wird, den Ein-

gang

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
dem Verhaͤltniß, ſo wie ſich, von einem Augenblik zum
andern, die Vorzuͤge und Talente unſers Helden ent-
wikelten. Jn der That beſaß er deren ſo viele, daß
der Neid der Hoͤflinge, der in gleicher Proportion von
Stunde zu Stunde ſtieg, gewiſſer maſſen zu entſchuldi-
gen war; die guten Leute wuͤrden ſich viel auf ſich ſelbſt
eingebildet haben, wenn ſie nur diejenigen Eigenſchaf-
ten, in einem ſolchen Grad, einzeln beſeſſen haͤtten,
welche in ihm vereinigt, dennoch den geringſten Theil
ſeines Werthes ausmachten. Er hatte die Klugheit,
anfaͤnglich ſeine gruͤndlichere Eigenſchaften zu verbergen,
und ſich bloß von derjenigen Seite zu zeigen, wodurch
ſich die Hochachtung der Weltleute am ſicherſten uͤber-
raſchen laͤßt. Er ſprach von allem mit dieſer Leichtig-
keit des Wizes, welche nur uͤber die Gegenſtaͤnde dahin-
glitſcht, und wodurch ſich oft die ſchaaleſten Koͤpfe in
der Welt (auf einige Zeit wenigſtens) das Anſehen,
Verſtand und Einſichten zu haben, zu geben wiſſen. Er
ſcherzte; er erzaͤhlte mit Anmuth; er machte andern
Gelegenheit ſich hoͤren zu laſſen; und bewunderte die
guten Einfaͤlle, welche dem ſchwazhaften Dionys unter
einer Menge von mittelmaͤſſigen und froſtigen zuweilen
entſielen, mit einer Art, welche, ohne ſeiner Aufrichtig-
keit oder ſeinem Geſchmak zuviel Gewalt anzuthun, die-
ſen Prinzen uͤberzeugte, daß Agathon unendlich viel Ver-
ſtand habe.

Die groſſen Herren haben gemeiniglich eine Lieblings-
Schwachheit, wodurch es ſehr leicht wird, den Ein-

gang
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[171/0173] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dem Verhaͤltniß, ſo wie ſich, von einem Augenblik zum andern, die Vorzuͤge und Talente unſers Helden ent- wikelten. Jn der That beſaß er deren ſo viele, daß der Neid der Hoͤflinge, der in gleicher Proportion von Stunde zu Stunde ſtieg, gewiſſer maſſen zu entſchuldi- gen war; die guten Leute wuͤrden ſich viel auf ſich ſelbſt eingebildet haben, wenn ſie nur diejenigen Eigenſchaf- ten, in einem ſolchen Grad, einzeln beſeſſen haͤtten, welche in ihm vereinigt, dennoch den geringſten Theil ſeines Werthes ausmachten. Er hatte die Klugheit, anfaͤnglich ſeine gruͤndlichere Eigenſchaften zu verbergen, und ſich bloß von derjenigen Seite zu zeigen, wodurch ſich die Hochachtung der Weltleute am ſicherſten uͤber- raſchen laͤßt. Er ſprach von allem mit dieſer Leichtig- keit des Wizes, welche nur uͤber die Gegenſtaͤnde dahin- glitſcht, und wodurch ſich oft die ſchaaleſten Koͤpfe in der Welt (auf einige Zeit wenigſtens) das Anſehen, Verſtand und Einſichten zu haben, zu geben wiſſen. Er ſcherzte; er erzaͤhlte mit Anmuth; er machte andern Gelegenheit ſich hoͤren zu laſſen; und bewunderte die guten Einfaͤlle, welche dem ſchwazhaften Dionys unter einer Menge von mittelmaͤſſigen und froſtigen zuweilen entſielen, mit einer Art, welche, ohne ſeiner Aufrichtig- keit oder ſeinem Geſchmak zuviel Gewalt anzuthun, die- ſen Prinzen uͤberzeugte, daß Agathon unendlich viel Ver- ſtand habe. Die groſſen Herren haben gemeiniglich eine Lieblings- Schwachheit, wodurch es ſehr leicht wird, den Ein- gang

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/173>, abgerufen am 21.11.2024.