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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, erstes Capitel.
Philistus würde Pallas gewesen seyn, wenn er das Glük
gehabt hätte, in den Vorzimmern eines Claudius aufzu-
wachsen. Die Proben, welche er in seiner kleinen
Sphäre von dem was er in einer grössern fähig gewe-
sen wäre, ablegte, lassen uns nicht daran zweifeln.
Ein gebohrner Sclave, und in der Folge einer von
den Freygelassenen des alten Dionys, hatte er sich schon
damals unter seinen Cameraden durch den schlauesten
Kopf und die geschmeidigste Gemüths-Art hervorgethan,
ohne daß es ihm jedoch einigen besondern Vorzug bey
seinem Herrn verschaffet hätte. Philistus grämte sich
billig über diese wiewol nicht ungewöhnliche Laune des
Glüks; aber er wußte sich selbst zu helfen. Glüklichere
Vorgänger hatten ihm den Weg gezeigt, sich ohne
Mühe und ohne Verdienste zu dieser hohen Stuffe em-
porzuschwingen, nach welcher ihm eine Art von Ambi-
tion, die sich in gewissen Seelen mit der verächtlichsten
Niederträchtigkeit vollkommen wol verträgt, ein unge-
zähmtes Verlangen gab. Wir haben schon bemerkt,
daß der jüngere Dionys von seinem Vater ungewohnlich
hart gehalten wurde. Philistus war der einzige, der
den Verstand hatte zu sehen, wieviel Vortheil sich aus
diesem Umstande ziehen lasse. Er fand Mittel, die
Nächte des jungen Prinzen angenehmer zu machen als
seine Tage waren. Brauchte es mehr, um als ein Wol-
thäter von ihm angesehen zu werden, dessen gute Dienste
er niemals genug werde belohnen können? Philistus
ließ es nicht dabey bewenden; er fiel auf den Einfall,
zu gleicher Zeit, und durch einen einzigen kleinen Hand-

grif,

Zehentes Buch, erſtes Capitel.
Philiſtus wuͤrde Pallas geweſen ſeyn, wenn er das Gluͤk
gehabt haͤtte, in den Vorzimmern eines Claudius aufzu-
wachſen. Die Proben, welche er in ſeiner kleinen
Sphaͤre von dem was er in einer groͤſſern faͤhig gewe-
ſen waͤre, ablegte, laſſen uns nicht daran zweifeln.
Ein gebohrner Sclave, und in der Folge einer von
den Freygelaſſenen des alten Dionys, hatte er ſich ſchon
damals unter ſeinen Cameraden durch den ſchlaueſten
Kopf und die geſchmeidigſte Gemuͤths-Art hervorgethan,
ohne daß es ihm jedoch einigen beſondern Vorzug bey
ſeinem Herrn verſchaffet haͤtte. Philiſtus graͤmte ſich
billig uͤber dieſe wiewol nicht ungewoͤhnliche Laune des
Gluͤks; aber er wußte ſich ſelbſt zu helfen. Gluͤklichere
Vorgaͤnger hatten ihm den Weg gezeigt, ſich ohne
Muͤhe und ohne Verdienſte zu dieſer hohen Stuffe em-
porzuſchwingen, nach welcher ihm eine Art von Ambi-
tion, die ſich in gewiſſen Seelen mit der veraͤchtlichſten
Niedertraͤchtigkeit vollkommen wol vertraͤgt, ein unge-
zaͤhmtes Verlangen gab. Wir haben ſchon bemerkt,
daß der juͤngere Dionys von ſeinem Vater ungewohnlich
hart gehalten wurde. Philiſtus war der einzige, der
den Verſtand hatte zu ſehen, wieviel Vortheil ſich aus
dieſem Umſtande ziehen laſſe. Er fand Mittel, die
Naͤchte des jungen Prinzen angenehmer zu machen als
ſeine Tage waren. Brauchte es mehr, um als ein Wol-
thaͤter von ihm angeſehen zu werden, deſſen gute Dienſte
er niemals genug werde belohnen koͤnnen? Philiſtus
ließ es nicht dabey bewenden; er fiel auf den Einfall,
zu gleicher Zeit, und durch einen einzigen kleinen Hand-

grif,
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[205/0207] Zehentes Buch, erſtes Capitel. Philiſtus wuͤrde Pallas geweſen ſeyn, wenn er das Gluͤk gehabt haͤtte, in den Vorzimmern eines Claudius aufzu- wachſen. Die Proben, welche er in ſeiner kleinen Sphaͤre von dem was er in einer groͤſſern faͤhig gewe- ſen waͤre, ablegte, laſſen uns nicht daran zweifeln. Ein gebohrner Sclave, und in der Folge einer von den Freygelaſſenen des alten Dionys, hatte er ſich ſchon damals unter ſeinen Cameraden durch den ſchlaueſten Kopf und die geſchmeidigſte Gemuͤths-Art hervorgethan, ohne daß es ihm jedoch einigen beſondern Vorzug bey ſeinem Herrn verſchaffet haͤtte. Philiſtus graͤmte ſich billig uͤber dieſe wiewol nicht ungewoͤhnliche Laune des Gluͤks; aber er wußte ſich ſelbſt zu helfen. Gluͤklichere Vorgaͤnger hatten ihm den Weg gezeigt, ſich ohne Muͤhe und ohne Verdienſte zu dieſer hohen Stuffe em- porzuſchwingen, nach welcher ihm eine Art von Ambi- tion, die ſich in gewiſſen Seelen mit der veraͤchtlichſten Niedertraͤchtigkeit vollkommen wol vertraͤgt, ein unge- zaͤhmtes Verlangen gab. Wir haben ſchon bemerkt, daß der juͤngere Dionys von ſeinem Vater ungewohnlich hart gehalten wurde. Philiſtus war der einzige, der den Verſtand hatte zu ſehen, wieviel Vortheil ſich aus dieſem Umſtande ziehen laſſe. Er fand Mittel, die Naͤchte des jungen Prinzen angenehmer zu machen als ſeine Tage waren. Brauchte es mehr, um als ein Wol- thaͤter von ihm angeſehen zu werden, deſſen gute Dienſte er niemals genug werde belohnen koͤnnen? Philiſtus ließ es nicht dabey bewenden; er fiel auf den Einfall, zu gleicher Zeit, und durch einen einzigen kleinen Hand- grif,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/207>, abgerufen am 24.11.2024.