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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, zweytes Capitel.
sie sich an unserm Helden zu nehmen vorsezte, die grau-
samste, welche nur immer in das Herz einer beleidig-
ten Schönen kommen kan. Sie wollte die ganze ver-
einigte Macht aller ihrer intellectualischen und körper-
lichen Reizungen, verstärkt durch alle Kunstgriffe der
schlauesten Coketterie (wovon ein so allgemeines Genie
als das ihrige wenigstens die Theorie besizen mußte) da-
zu anwenden, ihren Undankbaren zu ihren Füssen zu
legen; und wenn sie ihn durch die gehörige Abwechslun-
gen von Furcht und Hofnung endlich in den kläglichen
Zustand eines von Liebe und Sehnsucht verzehrten Sela-
dons gebracht, und sich an dem Schauspiel seiner Seuf-
zer, Thränen, Klagen, Ausruffungen und aller andern
Ausbrüche der verliebten Thorheit lange genug ergözt
haben würde -- ihn endlich auf einmal die ganze Schwere
der kaltsinnigsten Verachtung fühlen lassen. So wol-
ausgesonnen diese Rache war; so eyfrig und mit so vie-
ler Geschiklichkeit wurden die Anstalten dazu ins Werk
gesezt; und wir müssen gestehen, daß wenn der Erfolg
eines Projects allein von der guten Ausführung ab-
hienge, die schöne Cleonissa den vollständigsten Triumph
hätte erhalten müssen, der jemals über den Troz eines
widerspenstigen Herzens erhalten worden wäre. Ob
diese Dame, wenn Agathon sich in ihrem Neze gefan-
gen hätte, fähig gewesen wäre, die Rache so weit zu
treiben als sie sich selbst versprochen hatte? -- ist eine
problematische Frage, deren Entscheidung vielleicht sie
selbst, wenn der Fall sich ereignet hätte, in keine kleine
Verlegenheit gesezt haben würde. Aber Agathon ließ

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Zehentes Buch, zweytes Capitel.
ſie ſich an unſerm Helden zu nehmen vorſezte, die grau-
ſamſte, welche nur immer in das Herz einer beleidig-
ten Schoͤnen kommen kan. Sie wollte die ganze ver-
einigte Macht aller ihrer intellectualiſchen und koͤrper-
lichen Reizungen, verſtaͤrkt durch alle Kunſtgriffe der
ſchlaueſten Coketterie (wovon ein ſo allgemeines Genie
als das ihrige wenigſtens die Theorie beſizen mußte) da-
zu anwenden, ihren Undankbaren zu ihren Fuͤſſen zu
legen; und wenn ſie ihn durch die gehoͤrige Abwechſlun-
gen von Furcht und Hofnung endlich in den klaͤglichen
Zuſtand eines von Liebe und Sehnſucht verzehrten Sela-
dons gebracht, und ſich an dem Schauſpiel ſeiner Seuf-
zer, Thraͤnen, Klagen, Ausruffungen und aller andern
Ausbruͤche der verliebten Thorheit lange genug ergoͤzt
haben wuͤrde ‒‒ ihn endlich auf einmal die ganze Schwere
der kaltſinnigſten Verachtung fuͤhlen laſſen. So wol-
ausgeſonnen dieſe Rache war; ſo eyfrig und mit ſo vie-
ler Geſchiklichkeit wurden die Anſtalten dazu ins Werk
geſezt; und wir muͤſſen geſtehen, daß wenn der Erfolg
eines Projects allein von der guten Ausfuͤhrung ab-
hienge, die ſchoͤne Cleoniſſa den vollſtaͤndigſten Triumph
haͤtte erhalten muͤſſen, der jemals uͤber den Troz eines
widerſpenſtigen Herzens erhalten worden waͤre. Ob
dieſe Dame, wenn Agathon ſich in ihrem Neze gefan-
gen haͤtte, faͤhig geweſen waͤre, die Rache ſo weit zu
treiben als ſie ſich ſelbſt verſprochen hatte? ‒‒ iſt eine
problematiſche Frage, deren Entſcheidung vielleicht ſie
ſelbſt, wenn der Fall ſich ereignet haͤtte, in keine kleine
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[227/0229] Zehentes Buch, zweytes Capitel. ſie ſich an unſerm Helden zu nehmen vorſezte, die grau- ſamſte, welche nur immer in das Herz einer beleidig- ten Schoͤnen kommen kan. Sie wollte die ganze ver- einigte Macht aller ihrer intellectualiſchen und koͤrper- lichen Reizungen, verſtaͤrkt durch alle Kunſtgriffe der ſchlaueſten Coketterie (wovon ein ſo allgemeines Genie als das ihrige wenigſtens die Theorie beſizen mußte) da- zu anwenden, ihren Undankbaren zu ihren Fuͤſſen zu legen; und wenn ſie ihn durch die gehoͤrige Abwechſlun- gen von Furcht und Hofnung endlich in den klaͤglichen Zuſtand eines von Liebe und Sehnſucht verzehrten Sela- dons gebracht, und ſich an dem Schauſpiel ſeiner Seuf- zer, Thraͤnen, Klagen, Ausruffungen und aller andern Ausbruͤche der verliebten Thorheit lange genug ergoͤzt haben wuͤrde ‒‒ ihn endlich auf einmal die ganze Schwere der kaltſinnigſten Verachtung fuͤhlen laſſen. So wol- ausgeſonnen dieſe Rache war; ſo eyfrig und mit ſo vie- ler Geſchiklichkeit wurden die Anſtalten dazu ins Werk geſezt; und wir muͤſſen geſtehen, daß wenn der Erfolg eines Projects allein von der guten Ausfuͤhrung ab- hienge, die ſchoͤne Cleoniſſa den vollſtaͤndigſten Triumph haͤtte erhalten muͤſſen, der jemals uͤber den Troz eines widerſpenſtigen Herzens erhalten worden waͤre. Ob dieſe Dame, wenn Agathon ſich in ihrem Neze gefan- gen haͤtte, faͤhig geweſen waͤre, die Rache ſo weit zu treiben als ſie ſich ſelbſt verſprochen hatte? ‒‒ iſt eine problematiſche Frage, deren Entſcheidung vielleicht ſie ſelbſt, wenn der Fall ſich ereignet haͤtte, in keine kleine Verlegenheit geſezt haben wuͤrde. Aber Agathon ließ es P 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/229>, abgerufen am 24.11.2024.