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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, zweytes Capitel.
daß eine fein gearbeitete Schüssel aus corinthischem Erzt
besser seyn könne, als eine schlechte aus Silber, oder
daß ein Narr liebenswürdig seyn könne, weil er artig
sey. Sie liebten ihre Freyheit, wie eine Gattin, nicht
wie eine Beyschläferin, ohne Leidenschaft, und ohne
Eifersucht; sie sezten ein billiges Vertrauen in die-
jenige, denen sie die Vormundschaft über den Staat
anvertrauten; aber sie forderten auch, daß man dieses
Vertrauen verdiene. Der Geist der Emsigkeit, der
dieses achtungswürdige und glükliche Volk beseelte --
der unschuldigste und wolthätigste unter allen sublunari-
schen Geistern, die uns bekannt sind -- machte,
daß man sich zu Tarent weniger, als in den meisten
mittelmässigen Städten zu geschehen pflegt, um andre
bekümmerte; in so fern man sie durch keine gesezwid-
rige That, oder durch einen beleidigenden Contrast mit
ihren Sitten ärgerte, konnte jeder leben wie er wollte.
Alles dieses zusammengenommen, machte, wie uns däucht,
eine sehr gute Art von republicanischem Character; und
Agathon hätte schwerlich einen Freystaat finden können,
welcher geschikter gewesen wäre, seinen gegen dieselbe
gefaßten Widerwillen zu besänftigen. Ohne Zweifel
hatte dieses Volk auch seine Fehler, wie alle andre;
aber der weise Archytas, unter welchem der National-
Character der Tarentiner erst eine gesezte und feste Ge-
stalt gewonnen hatte, wußte diejenige Art derselben,
welche man die Temperaments-Fehler eines Volks neu-
nen kan, so klüglich zu behandeln, daß sie durch die
Vermischung mit ihren Tugenden, beynahe aufhörten,

Fehler

Eilftes Buch, zweytes Capitel.
daß eine fein gearbeitete Schuͤſſel aus corinthiſchem Erzt
beſſer ſeyn koͤnne, als eine ſchlechte aus Silber, oder
daß ein Narr liebenswuͤrdig ſeyn koͤnne, weil er artig
ſey. Sie liebten ihre Freyheit, wie eine Gattin, nicht
wie eine Beyſchlaͤferin, ohne Leidenſchaft, und ohne
Eiferſucht; ſie ſezten ein billiges Vertrauen in die-
jenige, denen ſie die Vormundſchaft uͤber den Staat
anvertrauten; aber ſie forderten auch, daß man dieſes
Vertrauen verdiene. Der Geiſt der Emſigkeit, der
dieſes achtungswuͤrdige und gluͤkliche Volk beſeelte ‒‒
der unſchuldigſte und wolthaͤtigſte unter allen ſublunari-
ſchen Geiſtern, die uns bekannt ſind ‒‒ machte,
daß man ſich zu Tarent weniger, als in den meiſten
mittelmaͤſſigen Staͤdten zu geſchehen pflegt, um andre
bekuͤmmerte; in ſo fern man ſie durch keine geſezwid-
rige That, oder durch einen beleidigenden Contraſt mit
ihren Sitten aͤrgerte, konnte jeder leben wie er wollte.
Alles dieſes zuſammengenommen, machte, wie uns daͤucht,
eine ſehr gute Art von republicaniſchem Character; und
Agathon haͤtte ſchwerlich einen Freyſtaat finden koͤnnen,
welcher geſchikter geweſen waͤre, ſeinen gegen dieſelbe
gefaßten Widerwillen zu beſaͤnftigen. Ohne Zweifel
hatte dieſes Volk auch ſeine Fehler, wie alle andre;
aber der weiſe Archytas, unter welchem der National-
Character der Tarentiner erſt eine geſezte und feſte Ge-
ſtalt gewonnen hatte, wußte diejenige Art derſelben,
welche man die Temperaments-Fehler eines Volks neu-
nen kan, ſo kluͤglich zu behandeln, daß ſie durch die
Vermiſchung mit ihren Tugenden, beynahe aufhoͤrten,

Fehler
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[303/0305] Eilftes Buch, zweytes Capitel. daß eine fein gearbeitete Schuͤſſel aus corinthiſchem Erzt beſſer ſeyn koͤnne, als eine ſchlechte aus Silber, oder daß ein Narr liebenswuͤrdig ſeyn koͤnne, weil er artig ſey. Sie liebten ihre Freyheit, wie eine Gattin, nicht wie eine Beyſchlaͤferin, ohne Leidenſchaft, und ohne Eiferſucht; ſie ſezten ein billiges Vertrauen in die- jenige, denen ſie die Vormundſchaft uͤber den Staat anvertrauten; aber ſie forderten auch, daß man dieſes Vertrauen verdiene. Der Geiſt der Emſigkeit, der dieſes achtungswuͤrdige und gluͤkliche Volk beſeelte ‒‒ der unſchuldigſte und wolthaͤtigſte unter allen ſublunari- ſchen Geiſtern, die uns bekannt ſind ‒‒ machte, daß man ſich zu Tarent weniger, als in den meiſten mittelmaͤſſigen Staͤdten zu geſchehen pflegt, um andre bekuͤmmerte; in ſo fern man ſie durch keine geſezwid- rige That, oder durch einen beleidigenden Contraſt mit ihren Sitten aͤrgerte, konnte jeder leben wie er wollte. Alles dieſes zuſammengenommen, machte, wie uns daͤucht, eine ſehr gute Art von republicaniſchem Character; und Agathon haͤtte ſchwerlich einen Freyſtaat finden koͤnnen, welcher geſchikter geweſen waͤre, ſeinen gegen dieſelbe gefaßten Widerwillen zu beſaͤnftigen. Ohne Zweifel hatte dieſes Volk auch ſeine Fehler, wie alle andre; aber der weiſe Archytas, unter welchem der National- Character der Tarentiner erſt eine geſezte und feſte Ge- ſtalt gewonnen hatte, wußte diejenige Art derſelben, welche man die Temperaments-Fehler eines Volks neu- nen kan, ſo kluͤglich zu behandeln, daß ſie durch die Vermiſchung mit ihren Tugenden, beynahe aufhoͤrten, Fehler

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/305>, abgerufen am 24.11.2024.