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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
physicalischer Vorzug, eine natürliche Folge ihrer Jugend
und ihrer Umstände: Danae war es vermuthlich auch,
da sie, unter der Aufsicht ihres edeln Bruders, mit
aller Naivität eines Landmädchens vor vierzehen Jahren
bey den Gastmälern zu Athen, nach der Flöte tanzte,
oder den Alcamenen, für die Gebühr, das Model zu
dem halbaufgeblühten Busen einer Hebe vorhielt. War
es ihre Schuld, daß sie nicht zu Delphi erzogen worden?
Oder, daß sich die ersten Empfindungen ihres jugend-
lichen Herzens für einen Alcibiades, und nicht für einen
Agathon entfalteten? -- Psyche liebte unschuldiger;
wir geben's zu; aber die Liebe bleibt doch in ihren Wür-
kungen allezeit sich selbst ähnlich. Sie erweitert ihre
Foderungen so lange bis sie im Besiz aller ihrer Rechte
ist; und die treuherzige Unerfahrenheit ist am wenigsten
im Stande, ihr diese Forderungen streitig zu machen.
Es war glüklich für die Unschuld der zärtlichen Psyche,
daß ihre nächtliche Zusammenkünfte unterbrochen wur-
den, eh diese auf eine so geistige Art sinnliche Schwär-
merey, worinn sie beyde so schöne Progressen zu ma-
chen angefangen hatten, ihren höchsten Grad erreichte.
Vielleicht noch wenige Tage, oder auch später, wenn
ihr wollt; aber desto gewisser würden die guten Kinder,
von einer unschuldigen Ergiessung des Herzens zur andern,
von einem immer noch zu schwachen Ausdruk ihrer un-
aussprechlichen Empfindungen zum andern, sich endlich,
zu ihrer eignen grossen Verwunderung, da gefun-
den haben, wo die Natur sie erwartet hätte; und wo

würde

Agathon.
phyſicaliſcher Vorzug, eine natuͤrliche Folge ihrer Jugend
und ihrer Umſtaͤnde: Danae war es vermuthlich auch,
da ſie, unter der Aufſicht ihres edeln Bruders, mit
aller Naivitaͤt eines Landmaͤdchens vor vierzehen Jahren
bey den Gaſtmaͤlern zu Athen, nach der Floͤte tanzte,
oder den Alcamenen, fuͤr die Gebuͤhr, das Model zu
dem halbaufgebluͤhten Buſen einer Hebe vorhielt. War
es ihre Schuld, daß ſie nicht zu Delphi erzogen worden?
Oder, daß ſich die erſten Empfindungen ihres jugend-
lichen Herzens fuͤr einen Alcibiades, und nicht fuͤr einen
Agathon entfalteten? — Pſyche liebte unſchuldiger;
wir geben’s zu; aber die Liebe bleibt doch in ihren Wuͤr-
kungen allezeit ſich ſelbſt aͤhnlich. Sie erweitert ihre
Foderungen ſo lange bis ſie im Beſiz aller ihrer Rechte
iſt; und die treuherzige Unerfahrenheit iſt am wenigſten
im Stande, ihr dieſe Forderungen ſtreitig zu machen.
Es war gluͤklich fuͤr die Unſchuld der zaͤrtlichen Pſyche,
daß ihre naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte unterbrochen wur-
den, eh dieſe auf eine ſo geiſtige Art ſinnliche Schwaͤr-
merey, worinn ſie beyde ſo ſchoͤne Progreſſen zu ma-
chen angefangen hatten, ihren hoͤchſten Grad erreichte.
Vielleicht noch wenige Tage, oder auch ſpaͤter, wenn
ihr wollt; aber deſto gewiſſer wuͤrden die guten Kinder,
von einer unſchuldigen Ergieſſung des Herzens zur andern,
von einem immer noch zu ſchwachen Ausdruk ihrer un-
ausſprechlichen Empfindungen zum andern, ſich endlich,
zu ihrer eignen groſſen Verwunderung, da gefun-
den haben, wo die Natur ſie erwartet haͤtte; und wo

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[30/0032] Agathon. phyſicaliſcher Vorzug, eine natuͤrliche Folge ihrer Jugend und ihrer Umſtaͤnde: Danae war es vermuthlich auch, da ſie, unter der Aufſicht ihres edeln Bruders, mit aller Naivitaͤt eines Landmaͤdchens vor vierzehen Jahren bey den Gaſtmaͤlern zu Athen, nach der Floͤte tanzte, oder den Alcamenen, fuͤr die Gebuͤhr, das Model zu dem halbaufgebluͤhten Buſen einer Hebe vorhielt. War es ihre Schuld, daß ſie nicht zu Delphi erzogen worden? Oder, daß ſich die erſten Empfindungen ihres jugend- lichen Herzens fuͤr einen Alcibiades, und nicht fuͤr einen Agathon entfalteten? — Pſyche liebte unſchuldiger; wir geben’s zu; aber die Liebe bleibt doch in ihren Wuͤr- kungen allezeit ſich ſelbſt aͤhnlich. Sie erweitert ihre Foderungen ſo lange bis ſie im Beſiz aller ihrer Rechte iſt; und die treuherzige Unerfahrenheit iſt am wenigſten im Stande, ihr dieſe Forderungen ſtreitig zu machen. Es war gluͤklich fuͤr die Unſchuld der zaͤrtlichen Pſyche, daß ihre naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte unterbrochen wur- den, eh dieſe auf eine ſo geiſtige Art ſinnliche Schwaͤr- merey, worinn ſie beyde ſo ſchoͤne Progreſſen zu ma- chen angefangen hatten, ihren hoͤchſten Grad erreichte. Vielleicht noch wenige Tage, oder auch ſpaͤter, wenn ihr wollt; aber deſto gewiſſer wuͤrden die guten Kinder, von einer unſchuldigen Ergieſſung des Herzens zur andern, von einem immer noch zu ſchwachen Ausdruk ihrer un- ausſprechlichen Empfindungen zum andern, ſich endlich, zu ihrer eignen groſſen Verwunderung, da gefun- den haben, wo die Natur ſie erwartet haͤtte; und wo wuͤrde

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/32>, abgerufen am 21.11.2024.