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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, viertes Capitel.
verlohr. Er sah die schöne Danae alle Tage; er hatte
alle Vorrechte eines Bruders bey ihr -- aber wie sollte
es möglich gewesen seyn, daß er sich immer daran be-
gnügt hätte? -- Es gab Augenblike, wo er, von den
Erinnerungen seiner ehmaligen Glükseligkeit berauscht,
sich die Rechte eines begünstigten Liebhabers herausneh-
men wollte. Aber Danae wurde durch den vertrauten
Umgang mit so tugendhaften Personen, als diejenigen
waren, mit denen sie nunmehr lebte, in ihrer neuen
Denkungs-Art so sehr bestärkt, daß die zärtlichsten Ver-
führungen der Liebe nichts über sie erhielten. Jn die-
sem Stüke wollte sie nicht mehr Danae für ihn seyn.
Das ist unwahrscheinlich, werden die Kenner sagen; un-
wahrscheinlich, antworte ich, aber möglich. Mit einem
Worte, Danae bewies durch ihr Exempel, daß es ei-
ner Danae möglich sey; und Agathon erfuhr es so sehr,
daß Psyche endlich selbst Mitleiden mit ihm zu haben
anfieng. Sie wußte die geheime Geschichte ihrer
Freundin; Danae hatte Tugend genug gehabt, ihr eine
aufrichtige Erzählung davon zu machen. Die Bedenk-
lichkeiten sind leicht zu errathen, welche der Glükselig-
keit dieser Liebenden, welche so ganz für einander ge-
schaffen zu seyn schienen, im Wege stuhnd. Aber waren
sie wichtig genug, um ihrentwillen unglüklich zu seyn? --
Hatte er nicht das Beyspiel des grossen Perikles vor
sich? Verdiente Danae nicht in allen Betrachtungen das
Schiksal der Aspasta? -- Es wäre uns leicht, unsern
Lesern hierüber aus dem Wunder zu helfen; aber wir
überlassen es ihnen zu errathen, was er that -- oder
auszumachen, was er hätte thun sollen.

Fünftes

Eilftes Buch, viertes Capitel.
verlohr. Er ſah die ſchoͤne Danae alle Tage; er hatte
alle Vorrechte eines Bruders bey ihr ‒‒ aber wie ſollte
es moͤglich geweſen ſeyn, daß er ſich immer daran be-
gnuͤgt haͤtte? ‒‒ Es gab Augenblike, wo er, von den
Erinnerungen ſeiner ehmaligen Gluͤkſeligkeit berauſcht,
ſich die Rechte eines beguͤnſtigten Liebhabers herausneh-
men wollte. Aber Danae wurde durch den vertrauten
Umgang mit ſo tugendhaften Perſonen, als diejenigen
waren, mit denen ſie nunmehr lebte, in ihrer neuen
Denkungs-Art ſo ſehr beſtaͤrkt, daß die zaͤrtlichſten Ver-
fuͤhrungen der Liebe nichts uͤber ſie erhielten. Jn die-
ſem Stuͤke wollte ſie nicht mehr Danae fuͤr ihn ſeyn.
Das iſt unwahrſcheinlich, werden die Kenner ſagen; un-
wahrſcheinlich, antworte ich, aber moͤglich. Mit einem
Worte, Danae bewies durch ihr Exempel, daß es ei-
ner Danae moͤglich ſey; und Agathon erfuhr es ſo ſehr,
daß Pſyche endlich ſelbſt Mitleiden mit ihm zu haben
anfieng. Sie wußte die geheime Geſchichte ihrer
Freundin; Danae hatte Tugend genug gehabt, ihr eine
aufrichtige Erzaͤhlung davon zu machen. Die Bedenk-
lichkeiten ſind leicht zu errathen, welche der Gluͤkſelig-
keit dieſer Liebenden, welche ſo ganz fuͤr einander ge-
ſchaffen zu ſeyn ſchienen, im Wege ſtuhnd. Aber waren
ſie wichtig genug, um ihrentwillen ungluͤklich zu ſeyn? ‒‒
Hatte er nicht das Beyſpiel des groſſen Perikles vor
ſich? Verdiente Danae nicht in allen Betrachtungen das
Schikſal der Aſpaſta? ‒‒ Es waͤre uns leicht, unſern
Leſern hieruͤber aus dem Wunder zu helfen; aber wir
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auszumachen, was er haͤtte thun ſollen.

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[349/0351] Eilftes Buch, viertes Capitel. verlohr. Er ſah die ſchoͤne Danae alle Tage; er hatte alle Vorrechte eines Bruders bey ihr ‒‒ aber wie ſollte es moͤglich geweſen ſeyn, daß er ſich immer daran be- gnuͤgt haͤtte? ‒‒ Es gab Augenblike, wo er, von den Erinnerungen ſeiner ehmaligen Gluͤkſeligkeit berauſcht, ſich die Rechte eines beguͤnſtigten Liebhabers herausneh- men wollte. Aber Danae wurde durch den vertrauten Umgang mit ſo tugendhaften Perſonen, als diejenigen waren, mit denen ſie nunmehr lebte, in ihrer neuen Denkungs-Art ſo ſehr beſtaͤrkt, daß die zaͤrtlichſten Ver- fuͤhrungen der Liebe nichts uͤber ſie erhielten. Jn die- ſem Stuͤke wollte ſie nicht mehr Danae fuͤr ihn ſeyn. Das iſt unwahrſcheinlich, werden die Kenner ſagen; un- wahrſcheinlich, antworte ich, aber moͤglich. Mit einem Worte, Danae bewies durch ihr Exempel, daß es ei- ner Danae moͤglich ſey; und Agathon erfuhr es ſo ſehr, daß Pſyche endlich ſelbſt Mitleiden mit ihm zu haben anfieng. Sie wußte die geheime Geſchichte ihrer Freundin; Danae hatte Tugend genug gehabt, ihr eine aufrichtige Erzaͤhlung davon zu machen. Die Bedenk- lichkeiten ſind leicht zu errathen, welche der Gluͤkſelig- keit dieſer Liebenden, welche ſo ganz fuͤr einander ge- ſchaffen zu ſeyn ſchienen, im Wege ſtuhnd. Aber waren ſie wichtig genug, um ihrentwillen ungluͤklich zu ſeyn? ‒‒ Hatte er nicht das Beyſpiel des groſſen Perikles vor ſich? Verdiente Danae nicht in allen Betrachtungen das Schikſal der Aſpaſta? ‒‒ Es waͤre uns leicht, unſern Leſern hieruͤber aus dem Wunder zu helfen; aber wir uͤberlaſſen es ihnen zu errathen, was er that ‒‒ oder auszumachen, was er haͤtte thun ſollen. Fuͤnftes

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/351>, abgerufen am 21.11.2024.