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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, drittes Capitel.
Jrthums und der Leidenschaften, worinn sie sich be-
findet, anzusehen. Die Reue ist zu nichts gut, als uns
einen tiefen Eindruk von der Häßlichkeit eines thörichten
oder unsittlichen Verhaltens, dessen wir uns schuldig
fühlen, zu geben. Sobald sie diese Würkung gethan
hat, sol sie aufhören; ihre Dauer würde uns nur die
Kräfte benehmen, uns in einen bessern Zustand empor-
zuarbeiten, und dadurch eben so schädlich werden als
eine allzugrosse Furcht, die zu nichts dient, als uns dem
Uebel desto gewisser auszuliefern, welchem wir behutsam
entfliehen oder muthig widerstehen sollten.

Agathon hatte desto mehr Ursache, diesen wohlthäti-
gen Eingebungen der Eigenliebe Gehör zu geben, da
ihm seine allezeit zu warme Einbildungs-Kraft seine
Vergehungen und den Gegenstand derselbigen würklich
in einem weit häßlichern Lichte gezeigt hatte, als die
gelassene und unparteyische Vernunft gethan haben
würde. Die seltsamen Abwechselung dieser launischen
Zauberin, und wie wenig ihr der plözliche Uebergang
von dem äussersten Grad eines Affects zum entgegen ge-
sezten kostet, wird vermuthlich einem guten Theil unsrer
Leser aus eigner Erfahrung so wol bekannt seyn, daß
sie sich nicht verwundern werden, zu vernehmen, daß
die Begierde sich selbst in seinen eignen Augen zu recht-
fertigen, oder doch wenigstens soviel möglich zu entschul-
digen, unsern Helden unvermerkt dahin gebracht habe,
auch der schönen Danae einen Theil der Gerechtigkeit

wieder
C 2

Achtes Buch, drittes Capitel.
Jrthums und der Leidenſchaften, worinn ſie ſich be-
findet, anzuſehen. Die Reue iſt zu nichts gut, als uns
einen tiefen Eindruk von der Haͤßlichkeit eines thoͤrichten
oder unſittlichen Verhaltens, deſſen wir uns ſchuldig
fuͤhlen, zu geben. Sobald ſie dieſe Wuͤrkung gethan
hat, ſol ſie aufhoͤren; ihre Dauer wuͤrde uns nur die
Kraͤfte benehmen, uns in einen beſſern Zuſtand empor-
zuarbeiten, und dadurch eben ſo ſchaͤdlich werden als
eine allzugroſſe Furcht, die zu nichts dient, als uns dem
Uebel deſto gewiſſer auszuliefern, welchem wir behutſam
entfliehen oder muthig widerſtehen ſollten.

Agathon hatte deſto mehr Urſache, dieſen wohlthaͤti-
gen Eingebungen der Eigenliebe Gehoͤr zu geben, da
ihm ſeine allezeit zu warme Einbildungs-Kraft ſeine
Vergehungen und den Gegenſtand derſelbigen wuͤrklich
in einem weit haͤßlichern Lichte gezeigt hatte, als die
gelaſſene und unparteyiſche Vernunft gethan haben
wuͤrde. Die ſeltſamen Abwechſelung dieſer launiſchen
Zauberin, und wie wenig ihr der ploͤzliche Uebergang
von dem aͤuſſerſten Grad eines Affects zum entgegen ge-
ſezten koſtet, wird vermuthlich einem guten Theil unſrer
Leſer aus eigner Erfahrung ſo wol bekannt ſeyn, daß
ſie ſich nicht verwundern werden, zu vernehmen, daß
die Begierde ſich ſelbſt in ſeinen eignen Augen zu recht-
fertigen, oder doch wenigſtens ſoviel moͤglich zu entſchul-
digen, unſern Helden unvermerkt dahin gebracht habe,
auch der ſchoͤnen Danae einen Theil der Gerechtigkeit

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[35/0037] Achtes Buch, drittes Capitel. Jrthums und der Leidenſchaften, worinn ſie ſich be- findet, anzuſehen. Die Reue iſt zu nichts gut, als uns einen tiefen Eindruk von der Haͤßlichkeit eines thoͤrichten oder unſittlichen Verhaltens, deſſen wir uns ſchuldig fuͤhlen, zu geben. Sobald ſie dieſe Wuͤrkung gethan hat, ſol ſie aufhoͤren; ihre Dauer wuͤrde uns nur die Kraͤfte benehmen, uns in einen beſſern Zuſtand empor- zuarbeiten, und dadurch eben ſo ſchaͤdlich werden als eine allzugroſſe Furcht, die zu nichts dient, als uns dem Uebel deſto gewiſſer auszuliefern, welchem wir behutſam entfliehen oder muthig widerſtehen ſollten. Agathon hatte deſto mehr Urſache, dieſen wohlthaͤti- gen Eingebungen der Eigenliebe Gehoͤr zu geben, da ihm ſeine allezeit zu warme Einbildungs-Kraft ſeine Vergehungen und den Gegenſtand derſelbigen wuͤrklich in einem weit haͤßlichern Lichte gezeigt hatte, als die gelaſſene und unparteyiſche Vernunft gethan haben wuͤrde. Die ſeltſamen Abwechſelung dieſer launiſchen Zauberin, und wie wenig ihr der ploͤzliche Uebergang von dem aͤuſſerſten Grad eines Affects zum entgegen ge- ſezten koſtet, wird vermuthlich einem guten Theil unſrer Leſer aus eigner Erfahrung ſo wol bekannt ſeyn, daß ſie ſich nicht verwundern werden, zu vernehmen, daß die Begierde ſich ſelbſt in ſeinen eignen Augen zu recht- fertigen, oder doch wenigſtens ſoviel moͤglich zu entſchul- digen, unſern Helden unvermerkt dahin gebracht habe, auch der ſchoͤnen Danae einen Theil der Gerechtigkeit wieder C 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/37>, abgerufen am 21.11.2024.