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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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6.
Mein Herr, ich bin ein Prinz vom berge Libanon.
Ich hatte mich dem dienst der Schönen aller Schönen
Drey jahre lang verdingt, und ohne minnelohn,
Bis sie erflehn sich ließ, so viele treu zu krönen.
Doch, in der hochzeitnacht, da ich als bräutigam
Ihr gleich den gürtel lösen wollte,
Da kam der wehrwolf, nahm sie untern arm, und trollte
Vor meinen augen weg mit meinem holden lamm.
7.
Sechs monden sind nunmehr verflossen,
Seit ich zu ihrem heil mein äußerstes versucht.
Weh mir! der eiserne thurm, worein er sie verschlossen,
Wehrt mir den zugang, ihr die flucht.
Das einz'ge, was ich noch von Amors süßer frucht
In dieser langen zeit genossen,
Ist tagelang von fern auf einem baum zu lauren,
Und hinzusehn nach den verhaßten mauren.
8.
Zuweilen däuchte mich sogar
Ich sehe sie mit losgebundnem haar
Am fenster stehn, und mit gerungnen armen,
Als flehte sie zum himmel um erbarmen.
Mir fuhr ein dolch ins herz. Und die verzweiflung nun
Trieb mich, seit jenem tag, zu thun
Was ihr erfahren habt, wie alle diese streiter:
Kurz, ungefochten, Herr, kömmt hier kein Ritter weiter.
9. Ge-
D
6.
Mein Herr, ich bin ein Prinz vom berge Libanon.
Ich hatte mich dem dienſt der Schoͤnen aller Schoͤnen
Drey jahre lang verdingt, und ohne minnelohn,
Bis ſie erflehn ſich ließ, ſo viele treu zu kroͤnen.
Doch, in der hochzeitnacht, da ich als braͤutigam
Ihr gleich den guͤrtel loͤſen wollte,
Da kam der wehrwolf, nahm ſie untern arm, und trollte
Vor meinen augen weg mit meinem holden lamm.
7.
Sechs monden ſind nunmehr verfloſſen,
Seit ich zu ihrem heil mein aͤußerſtes verſucht.
Weh mir! der eiſerne thurm, worein er ſie verſchloſſen,
Wehrt mir den zugang, ihr die flucht.
Das einz'ge, was ich noch von Amors ſuͤßer frucht
In dieſer langen zeit genoſſen,
Iſt tagelang von fern auf einem baum zu lauren,
Und hinzuſehn nach den verhaßten mauren.
8.
Zuweilen daͤuchte mich ſogar
Ich ſehe ſie mit losgebundnem haar
Am fenſter ſtehn, und mit gerungnen armen,
Als flehte ſie zum himmel um erbarmen.
Mir fuhr ein dolch ins herz. Und die verzweiflung nun
Trieb mich, ſeit jenem tag, zu thun
Was ihr erfahren habt, wie alle dieſe ſtreiter:
Kurz, ungefochten, Herr, koͤmmt hier kein Ritter weiter.
9. Ge-
D
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[0055] 6. Mein Herr, ich bin ein Prinz vom berge Libanon. Ich hatte mich dem dienſt der Schoͤnen aller Schoͤnen Drey jahre lang verdingt, und ohne minnelohn, Bis ſie erflehn ſich ließ, ſo viele treu zu kroͤnen. Doch, in der hochzeitnacht, da ich als braͤutigam Ihr gleich den guͤrtel loͤſen wollte, Da kam der wehrwolf, nahm ſie untern arm, und trollte Vor meinen augen weg mit meinem holden lamm. 7. Sechs monden ſind nunmehr verfloſſen, Seit ich zu ihrem heil mein aͤußerſtes verſucht. Weh mir! der eiſerne thurm, worein er ſie verſchloſſen, Wehrt mir den zugang, ihr die flucht. Das einz'ge, was ich noch von Amors ſuͤßer frucht In dieſer langen zeit genoſſen, Iſt tagelang von fern auf einem baum zu lauren, Und hinzuſehn nach den verhaßten mauren. 8. Zuweilen daͤuchte mich ſogar Ich ſehe ſie mit losgebundnem haar Am fenſter ſtehn, und mit gerungnen armen, Als flehte ſie zum himmel um erbarmen. Mir fuhr ein dolch ins herz. Und die verzweiflung nun Trieb mich, ſeit jenem tag, zu thun Was ihr erfahren habt, wie alle dieſe ſtreiter: Kurz, ungefochten, Herr, koͤmmt hier kein Ritter weiter. 9. Ge- D

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/55>, abgerufen am 22.12.2024.