Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
3.
Daß ich von kindheit an so viele offne Busen
Und bloße schultern sah, mocht auch mit ursach seyn.
Gewohnheit gleicht in diesem stück Medusen,
Und für das Schönste selbst verkehrt sie uns in stein.
Allein, was half mirs, frey geblieben
Zu seyn bis in mein zweymal zehntes Jahr?
Auch meine stunde kam! Ach, Freund! mein schicksal war
Im traum zum erstenmal zu lieben.
4.
Ja, Scherasmin, nun hab' ich sie gesehn,
Sie, von den sternen mir zur Siegerin erkoren;
Gesehen hab' ich sie, und ohne widerstehn
Beym ersten blick mein herz an sie verloren.
Du sprichst, es war ein traum? Nein, Mann, ein hirngespenst
Kann nicht so tiefe spuren graben!
Und wenn du tausendmal mich einen Thoren nennst,
Sie lebt, ich hatte sie, und muß sie wieder haben.
5.
O hättest du den Engel doch
Gesehn wie ich! -- Zwar, wenn ich malen könnte,
Ich stellte sie dir hin, so glüend wie sie noch
Vor meiner stirne schwebt, und bin gewiß, sie brennte
Dein altes herz zu einer kohle aus.
Ach! daß nur etwas mir geblieben wär', das leben
Von ihr empfieng! Wär's nur der blumenstraus
Vor ihrer brust! was wollt ich nicht drum geben?
6. Denk
E 4
3.
Daß ich von kindheit an ſo viele offne Buſen
Und bloße ſchultern ſah, mocht auch mit urſach ſeyn.
Gewohnheit gleicht in dieſem ſtuͤck Meduſen,
Und fuͤr das Schoͤnſte ſelbſt verkehrt ſie uns in ſtein.
Allein, was half mirs, frey geblieben
Zu ſeyn bis in mein zweymal zehntes Jahr?
Auch meine ſtunde kam! Ach, Freund! mein ſchickſal war
Im traum zum erſtenmal zu lieben.
4.
Ja, Scherasmin, nun hab' ich ſie geſehn,
Sie, von den ſternen mir zur Siegerin erkoren;
Geſehen hab' ich ſie, und ohne widerſtehn
Beym erſten blick mein herz an ſie verloren.
Du ſprichſt, es war ein traum? Nein, Mann, ein hirngeſpenſt
Kann nicht ſo tiefe ſpuren graben!
Und wenn du tauſendmal mich einen Thoren nennſt,
Sie lebt, ich hatte ſie, und muß ſie wieder haben.
5.
O haͤtteſt du den Engel doch
Geſehn wie ich! — Zwar, wenn ich malen koͤnnte,
Ich ſtellte ſie dir hin, ſo gluͤend wie ſie noch
Vor meiner ſtirne ſchwebt, und bin gewiß, ſie brennte
Dein altes herz zu einer kohle aus.
Ach! daß nur etwas mir geblieben waͤr', das leben
Von ihr empfieng! Waͤr's nur der blumenſtraus
Vor ihrer bruſt! was wollt ich nicht drum geben?
6. Denk
E 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0077"/>
            <lg n="3">
              <head> <hi rendition="#c">3.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">D</hi>aß ich von kindheit an &#x017F;o viele offne Bu&#x017F;en</l><lb/>
              <l>Und bloße &#x017F;chultern &#x017F;ah, mocht auch mit ur&#x017F;ach &#x017F;eyn.</l><lb/>
              <l>Gewohnheit gleicht in die&#x017F;em &#x017F;tu&#x0364;ck Medu&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Und fu&#x0364;r das Scho&#x0364;n&#x017F;te &#x017F;elb&#x017F;t verkehrt &#x017F;ie uns in &#x017F;tein.</l><lb/>
              <l>Allein, was half mirs, frey geblieben</l><lb/>
              <l>Zu &#x017F;eyn bis in mein zweymal zehntes Jahr?</l><lb/>
              <l>Auch meine &#x017F;tunde kam! Ach, Freund! mein &#x017F;chick&#x017F;al war</l><lb/>
              <l>Im traum zum er&#x017F;tenmal zu lieben.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <head> <hi rendition="#c">4.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">J</hi>a, Scherasmin, nun hab' ich &#x017F;ie ge&#x017F;ehn,</l><lb/>
              <l>Sie, von den &#x017F;ternen mir zur Siegerin erkoren;</l><lb/>
              <l>Ge&#x017F;ehen hab' ich &#x017F;ie, und ohne wider&#x017F;tehn</l><lb/>
              <l>Beym er&#x017F;ten blick mein herz an &#x017F;ie verloren.</l><lb/>
              <l>Du &#x017F;prich&#x017F;t, es war ein traum? Nein, Mann, ein hirnge&#x017F;pen&#x017F;t</l><lb/>
              <l>Kann nicht &#x017F;o tiefe &#x017F;puren graben!</l><lb/>
              <l>Und wenn du tau&#x017F;endmal mich einen Thoren nenn&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Sie lebt, ich hatte &#x017F;ie, und muß &#x017F;ie wieder haben.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <head> <hi rendition="#c">5.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">O</hi> ha&#x0364;tte&#x017F;t du den Engel doch</l><lb/>
              <l>Ge&#x017F;ehn wie ich! &#x2014; Zwar, wenn ich malen ko&#x0364;nnte,</l><lb/>
              <l>Ich &#x017F;tellte &#x017F;ie dir hin, &#x017F;o glu&#x0364;end wie &#x017F;ie noch</l><lb/>
              <l>Vor meiner &#x017F;tirne &#x017F;chwebt, und bin gewiß, &#x017F;ie brennte</l><lb/>
              <l>Dein altes herz zu einer kohle aus.</l><lb/>
              <l>Ach! daß nur etwas mir geblieben wa&#x0364;r', das leben</l><lb/>
              <l>Von ihr empfieng! Wa&#x0364;r's nur der blumen&#x017F;traus</l><lb/>
              <l>Vor ihrer bru&#x017F;t! was wollt ich nicht drum geben?</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">E 4</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">6. Denk</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0077] 3. Daß ich von kindheit an ſo viele offne Buſen Und bloße ſchultern ſah, mocht auch mit urſach ſeyn. Gewohnheit gleicht in dieſem ſtuͤck Meduſen, Und fuͤr das Schoͤnſte ſelbſt verkehrt ſie uns in ſtein. Allein, was half mirs, frey geblieben Zu ſeyn bis in mein zweymal zehntes Jahr? Auch meine ſtunde kam! Ach, Freund! mein ſchickſal war Im traum zum erſtenmal zu lieben. 4. Ja, Scherasmin, nun hab' ich ſie geſehn, Sie, von den ſternen mir zur Siegerin erkoren; Geſehen hab' ich ſie, und ohne widerſtehn Beym erſten blick mein herz an ſie verloren. Du ſprichſt, es war ein traum? Nein, Mann, ein hirngeſpenſt Kann nicht ſo tiefe ſpuren graben! Und wenn du tauſendmal mich einen Thoren nennſt, Sie lebt, ich hatte ſie, und muß ſie wieder haben. 5. O haͤtteſt du den Engel doch Geſehn wie ich! — Zwar, wenn ich malen koͤnnte, Ich ſtellte ſie dir hin, ſo gluͤend wie ſie noch Vor meiner ſtirne ſchwebt, und bin gewiß, ſie brennte Dein altes herz zu einer kohle aus. Ach! daß nur etwas mir geblieben waͤr', das leben Von ihr empfieng! Waͤr's nur der blumenſtraus Vor ihrer bruſt! was wollt ich nicht drum geben? 6. Denk E 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/77
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/77>, abgerufen am 22.12.2024.