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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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heißt, wenn das geschichtliche Leben der Völker
todt und abgestorben ist; daher denn auch Logik
und Mathematik am Allerwenigsten den menschli¬
chen Geist in seiner Bewegung abspiegeln, und
wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬
dium derselben keinen Schluß auf die Blüthe an¬
derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erscheint in
ihnen das Geistige nur in den allgemeinsten For¬
men, Denk- und Anschauungsgesetzen, aber man
vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem
Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man
behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder
Blut noch Gewissen, weder Geist noch Herz zu
besitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann,
was des Menschen Busen erfüllt und begeistert,
was ihn zum Menschen macht, daß ein Logiker
und Mathematiker eben so gut auf dem Jupiter
oder Uranus seine Heimath finde, daß es nur
gleichsam reine Zufälligkeit ist, wenn er seine Ope¬
rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬
halb der gewölbten Wände eines menschlichen Ge¬
hirns anstellt. Diese Wissenschaften geben uns
keine Ahnung von der Fülle der Menschheit, es
ist ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬
ren Inhalt zu abstrahiren. Glauben Sie nicht,
daß dies zur Verachtung derselben gesagt werden
soll, ich verehre insbesondere die Mathematik und

heißt, wenn das geſchichtliche Leben der Voͤlker
todt und abgeſtorben iſt; daher denn auch Logik
und Mathematik am Allerwenigſten den menſchli¬
chen Geiſt in ſeiner Bewegung abſpiegeln, und
wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬
dium derſelben keinen Schluß auf die Bluͤthe an¬
derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erſcheint in
ihnen das Geiſtige nur in den allgemeinſten For¬
men, Denk- und Anſchauungsgeſetzen, aber man
vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem
Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man
behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder
Blut noch Gewiſſen, weder Geiſt noch Herz zu
beſitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann,
was des Menſchen Buſen erfuͤllt und begeiſtert,
was ihn zum Menſchen macht, daß ein Logiker
und Mathematiker eben ſo gut auf dem Jupiter
oder Uranus ſeine Heimath finde, daß es nur
gleichſam reine Zufaͤlligkeit iſt, wenn er ſeine Ope¬
rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬
halb der gewoͤlbten Waͤnde eines menſchlichen Ge¬
hirns anſtellt. Dieſe Wiſſenſchaften geben uns
keine Ahnung von der Fuͤlle der Menſchheit, es
iſt ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬
ren Inhalt zu abſtrahiren. Glauben Sie nicht,
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[86/0100] heißt, wenn das geſchichtliche Leben der Voͤlker todt und abgeſtorben iſt; daher denn auch Logik und Mathematik am Allerwenigſten den menſchli¬ chen Geiſt in ſeiner Bewegung abſpiegeln, und wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬ dium derſelben keinen Schluß auf die Bluͤthe an¬ derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erſcheint in ihnen das Geiſtige nur in den allgemeinſten For¬ men, Denk- und Anſchauungsgeſetzen, aber man vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder Blut noch Gewiſſen, weder Geiſt noch Herz zu beſitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann, was des Menſchen Buſen erfuͤllt und begeiſtert, was ihn zum Menſchen macht, daß ein Logiker und Mathematiker eben ſo gut auf dem Jupiter oder Uranus ſeine Heimath finde, daß es nur gleichſam reine Zufaͤlligkeit iſt, wenn er ſeine Ope¬ rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬ halb der gewoͤlbten Waͤnde eines menſchlichen Ge¬ hirns anſtellt. Dieſe Wiſſenſchaften geben uns keine Ahnung von der Fuͤlle der Menſchheit, es iſt ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬ ren Inhalt zu abſtrahiren. Glauben Sie nicht, daß dies zur Verachtung derſelben geſagt werden ſoll, ich verehre insbeſondere die Mathematik und

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/100>, abgerufen am 22.11.2024.