Thieraugen den Menschen wehmüthig schmerzlich ansehen und in Gemeinschaft mit ihm nach der Zeit schmachten, wo ihre Larven fallen und sie wieder in den Zustand der Seligkeit, das ist der Bewußtlosigkeit, der Vernichtung zurückkehren. -- Zu verwesen bei lebendigem Leibe, diese schauder¬ hafte Sehnsucht zieht sich durch die indische Welt, und erfüllt uns mit einem seltsamen, unheimli¬ chen Gefühl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verläßt, als bis wir an den Ufern des lebensfrischen und lebensfrohen Griechenlands Athem holend angelangt sind. Wel¬ cher Himmel, welche Erde, welche Menschen, welche Götter, welche Geschichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunst, das Alles ist Griechenland und man muß staunen und sich verwundern, daß zwei so ungleiche Länder, wie Indien und Grie¬ chenland, auf einem und demselben Planeten zusam¬ men liegen. Unauflöslich würde in der That das Räthsel sein, wie die Weltanschauung und das Leben bei Geschöpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demselben gei¬ stigen Odem durchweht, so grundverschieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬ gegengesetzt sich gestalten konnte, wäre uns die Ur¬ geschichte des griechischen Geistes völlig unbekannt und könnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke
Thieraugen den Menſchen wehmuͤthig ſchmerzlich anſehen und in Gemeinſchaft mit ihm nach der Zeit ſchmachten, wo ihre Larven fallen und ſie wieder in den Zuſtand der Seligkeit, das iſt der Bewußtloſigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. — Zu verweſen bei lebendigem Leibe, dieſe ſchauder¬ hafte Sehnſucht zieht ſich durch die indiſche Welt, und erfuͤllt uns mit einem ſeltſamen, unheimli¬ chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir an den Ufern des lebensfriſchen und lebensfrohen Griechenlands Athem holend angelangt ſind. Wel¬ cher Himmel, welche Erde, welche Menſchen, welche Goͤtter, welche Geſchichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunſt, das Alles iſt Griechenland und man muß ſtaunen und ſich verwundern, daß zwei ſo ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬ chenland, auf einem und demſelben Planeten zuſam¬ men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das Raͤthſel ſein, wie die Weltanſchauung und das Leben bei Geſchoͤpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demſelben gei¬ ſtigen Odem durchweht, ſo grundverſchieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬ gegengeſetzt ſich geſtalten konnte, waͤre uns die Ur¬ geſchichte des griechiſchen Geiſtes voͤllig unbekannt und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0115"n="101"/>
Thieraugen den Menſchen wehmuͤthig ſchmerzlich<lb/>
anſehen und in Gemeinſchaft mit ihm nach der<lb/>
Zeit ſchmachten, wo ihre Larven fallen und ſie<lb/>
wieder in den Zuſtand der Seligkeit, das iſt der<lb/>
Bewußtloſigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. —<lb/>
Zu verweſen bei lebendigem Leibe, dieſe ſchauder¬<lb/>
hafte Sehnſucht zieht ſich durch die indiſche Welt,<lb/>
und erfuͤllt uns mit einem ſeltſamen, unheimli¬<lb/>
chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient<lb/>
begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir<lb/>
an den Ufern des lebensfriſchen und lebensfrohen<lb/>
Griechenlands Athem holend angelangt ſind. Wel¬<lb/>
cher Himmel, welche Erde, welche Menſchen, welche<lb/>
Goͤtter, welche Geſchichte, welche Gedichte, welche<lb/>
Natur, welche Kunſt, das Alles iſt Griechenland<lb/>
und man muß ſtaunen und ſich verwundern, daß<lb/>
zwei ſo ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬<lb/>
chenland, auf einem und demſelben Planeten zuſam¬<lb/>
men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das<lb/>
Raͤthſel ſein, wie die Weltanſchauung und das<lb/>
Leben bei Geſchoͤpfen von einerlei Natur und Art,<lb/>
aus einerlei Teig geknetet und mit demſelben gei¬<lb/>ſtigen Odem durchweht, ſo grundverſchieden, ja<lb/>
in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬<lb/>
gegengeſetzt ſich geſtalten konnte, waͤre uns die Ur¬<lb/>
geſchichte des griechiſchen Geiſtes voͤllig unbekannt<lb/>
und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke<lb/></p></div></body></text></TEI>
[101/0115]
Thieraugen den Menſchen wehmuͤthig ſchmerzlich
anſehen und in Gemeinſchaft mit ihm nach der
Zeit ſchmachten, wo ihre Larven fallen und ſie
wieder in den Zuſtand der Seligkeit, das iſt der
Bewußtloſigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. —
Zu verweſen bei lebendigem Leibe, dieſe ſchauder¬
hafte Sehnſucht zieht ſich durch die indiſche Welt,
und erfuͤllt uns mit einem ſeltſamen, unheimli¬
chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient
begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir
an den Ufern des lebensfriſchen und lebensfrohen
Griechenlands Athem holend angelangt ſind. Wel¬
cher Himmel, welche Erde, welche Menſchen, welche
Goͤtter, welche Geſchichte, welche Gedichte, welche
Natur, welche Kunſt, das Alles iſt Griechenland
und man muß ſtaunen und ſich verwundern, daß
zwei ſo ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬
chenland, auf einem und demſelben Planeten zuſam¬
men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das
Raͤthſel ſein, wie die Weltanſchauung und das
Leben bei Geſchoͤpfen von einerlei Natur und Art,
aus einerlei Teig geknetet und mit demſelben gei¬
ſtigen Odem durchweht, ſo grundverſchieden, ja
in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬
gegengeſetzt ſich geſtalten konnte, waͤre uns die Ur¬
geſchichte des griechiſchen Geiſtes voͤllig unbekannt
und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/115>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.