Selbst die Kunst, welche das Christenthum eine Zeit lang verherrlichte, die Malerkunst des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung desselben bei; sie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schönheiten der Form an der Antike studirt und mit griechischem Auge im Leben aufgesucht. Offne und freie Schön¬ heit der Form aber ist dem Christenthume fremd, das Christenthum ist ernst, verhüllt und züchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Rosen versteckt liegt. Auf einer raphaelischen Ma¬ donna würde der Blick eines Paulus schwerlich mit demselben Wohlgefallen geruht haben, wie etwa der unsrige, derselbe Apostel, der der Jung¬ frau verbot ihre Haare wallen zu lassen und Kränze auf ihr Haupt zu setzen, mußte auch die Absicht des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und Unschuld der Madonna doch hauptsächlich das Bild eines schönen und reizenden Wesens vor Au¬ gen zu bringen.
Eben so gefährlich, als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechischen Kunst, ward der ur¬ sprünglichen Anschauungsweise des Christenthums der scharfe Verstand, der ungläubige Witz, der scharf die Dinge scheidet, der klar und hell in die Erscheinungen blickt und der fressend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchschneidet. Und
Selbſt die Kunſt, welche das Chriſtenthum eine Zeit lang verherrlichte, die Malerkunſt des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung deſſelben bei; ſie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schoͤnheiten der Form an der Antike ſtudirt und mit griechiſchem Auge im Leben aufgeſucht. Offne und freie Schoͤn¬ heit der Form aber iſt dem Chriſtenthume fremd, das Chriſtenthum iſt ernſt, verhuͤllt und zuͤchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Roſen verſteckt liegt. Auf einer raphaeliſchen Ma¬ donna wuͤrde der Blick eines Paulus ſchwerlich mit demſelben Wohlgefallen geruht haben, wie etwa der unſrige, derſelbe Apoſtel, der der Jung¬ frau verbot ihre Haare wallen zu laſſen und Kraͤnze auf ihr Haupt zu ſetzen, mußte auch die Abſicht des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und Unſchuld der Madonna doch hauptſaͤchlich das Bild eines ſchoͤnen und reizenden Weſens vor Au¬ gen zu bringen.
Eben ſo gefaͤhrlich, als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechiſchen Kunſt, ward der ur¬ ſpruͤnglichen Anſchauungsweiſe des Chriſtenthums der ſcharfe Verſtand, der unglaͤubige Witz, der ſcharf die Dinge ſcheidet, der klar und hell in die Erſcheinungen blickt und der freſſend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchſchneidet. Und
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Selbſt die Kunſt, welche das Chriſtenthum eine
Zeit lang verherrlichte, die Malerkunſt des 14.
und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung
deſſelben bei; ſie war bei den Griechen in die
Schule gegangen und hatte die Schoͤnheiten der
Form an der Antike ſtudirt und mit griechiſchem
Auge im Leben aufgeſucht. Offne und freie Schoͤn¬
heit der Form aber iſt dem Chriſtenthume fremd,
das Chriſtenthum iſt ernſt, verhuͤllt und zuͤchtig,
und immer ahnt es die Schlange, die hinter den
Roſen verſteckt liegt. Auf einer raphaeliſchen Ma¬
donna wuͤrde der Blick eines Paulus ſchwerlich
mit demſelben Wohlgefallen geruht haben, wie
etwa der unſrige, derſelbe Apoſtel, der der Jung¬
frau verbot ihre Haare wallen zu laſſen und Kraͤnze
auf ihr Haupt zu ſetzen, mußte auch die Abſicht
des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und
Unſchuld der Madonna doch hauptſaͤchlich das
Bild eines ſchoͤnen und reizenden Weſens vor Au¬
gen zu bringen.
Eben ſo gefaͤhrlich, als die neu erwachende
Sinnlichkeit der griechiſchen Kunſt, ward der ur¬
ſpruͤnglichen Anſchauungsweiſe des Chriſtenthums
der ſcharfe Verſtand, der unglaͤubige Witz, der
ſcharf die Dinge ſcheidet, der klar und hell in die
Erſcheinungen blickt und der freſſend, zehrend den
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/126>, abgerufen am 24.11.2024.
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