gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geschichte unserer Betrach¬ tung würdigen, so muß es möglich sein, uns über den beregten Punkt zu verständigen. Wir denken doch, daß es eine solche Moral im Leben und in der Geschichte gibt und daß die Moral nicht blos in den Lehrbüchern und auf dem Papier stehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬ digen, daß das Göttliche in der Welt wirklich zur Erscheinung gekommen, daß Gott sich in der Ge¬ schichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichsam nur die Vorhalle seines Offenbarungs¬ tempels ist. Es wäre ja gottlos, daran zu zwei¬ feln, daß Gottes Eigenschaften sich irgendwo un¬ bezeugt gelassen, unverständig, ja unsinnig z. B. zu sagen, der gerechte Gott fände sich nicht in der Natur und in dem, was nach christlicher Termi¬ nologie natürlicher Mensch heißt, und wir müßten es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugnisse, Gott auf sein Wort blos glauben, daß er ge¬ recht sei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geschichte ausgeprägt zu finden. Also, betrachten wir die Moral der Ge¬ schichte, sehen wir, wie die göttlichen Ideen sich in diesem, in jenem Volke, zu dieser und zu jener Zeit verkörperten, in der Brust der Menschenkin¬ der lebten und sich zu Thaten entfalteten, so sehen
gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geſchichte unſerer Betrach¬ tung wuͤrdigen, ſo muß es moͤglich ſein, uns uͤber den beregten Punkt zu verſtaͤndigen. Wir denken doch, daß es eine ſolche Moral im Leben und in der Geſchichte gibt und daß die Moral nicht blos in den Lehrbuͤchern und auf dem Papier ſtehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬ digen, daß das Goͤttliche in der Welt wirklich zur Erſcheinung gekommen, daß Gott ſich in der Ge¬ ſchichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichſam nur die Vorhalle ſeines Offenbarungs¬ tempels iſt. Es waͤre ja gottlos, daran zu zwei¬ feln, daß Gottes Eigenſchaften ſich irgendwo un¬ bezeugt gelaſſen, unverſtaͤndig, ja unſinnig z. B. zu ſagen, der gerechte Gott faͤnde ſich nicht in der Natur und in dem, was nach chriſtlicher Termi¬ nologie natuͤrlicher Menſch heißt, und wir muͤßten es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugniſſe, Gott auf ſein Wort blos glauben, daß er ge¬ recht ſei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geſchichte ausgepraͤgt zu finden. Alſo, betrachten wir die Moral der Ge¬ ſchichte, ſehen wir, wie die goͤttlichen Ideen ſich in dieſem, in jenem Volke, zu dieſer und zu jener Zeit verkoͤrperten, in der Bruſt der Menſchenkin¬ der lebten und ſich zu Thaten entfalteten, ſo ſehen
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gemachter und papierner Moral die Moral des
Lebens, die Moral der Geſchichte unſerer Betrach¬
tung wuͤrdigen, ſo muß es moͤglich ſein, uns uͤber
den beregten Punkt zu verſtaͤndigen. Wir denken
doch, daß es eine ſolche Moral im Leben und in
der Geſchichte gibt und daß die Moral nicht blos
in den Lehrbuͤchern und auf dem Papier ſtehe;
wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬
digen, daß das Goͤttliche in der Welt wirklich zur
Erſcheinung gekommen, daß Gott ſich in der Ge¬
ſchichte offenbart hat, wie in der Natur, welche
gleichſam nur die Vorhalle ſeines Offenbarungs¬
tempels iſt. Es waͤre ja gottlos, daran zu zwei¬
feln, daß Gottes Eigenſchaften ſich irgendwo un¬
bezeugt gelaſſen, unverſtaͤndig, ja unſinnig z. B. zu
ſagen, der gerechte Gott faͤnde ſich nicht in der
Natur und in dem, was nach chriſtlicher Termi¬
nologie natuͤrlicher Menſch heißt, und wir muͤßten
es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugniſſe,
Gott auf ſein Wort blos glauben, daß er ge¬
recht ſei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns,
in der Natur, in der Geſchichte ausgepraͤgt zu
finden. Alſo, betrachten wir die Moral der Ge¬
ſchichte, ſehen wir, wie die goͤttlichen Ideen ſich
in dieſem, in jenem Volke, zu dieſer und zu jener
Zeit verkoͤrperten, in der Bruſt der Menſchenkin¬
der lebten und ſich zu Thaten entfalteten, ſo ſehen
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/194>, abgerufen am 21.11.2024.
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