lebendigen sind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬ denfalls aber keine Beweise großer Kunst.
Wollte man sie dafür ausgeben, so wären Wachsfiguren die Meisterwerke der Kunst, sie kom¬ men dem Leben am Nächsten, stehen aber eben deswegen vom Leben am Entferntesten ab. Da¬ durch erregen sie dem natürlichen Betrachter den widerlichsten Eindruck. Sie stieren uns an, als wollten sie uns weiß machen, daß sie lebten, aber uns graut vor diesem wächsernen Blick, vor die¬ sen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und rothen Wangen und wir verwünschen die Finger¬ fertigkeit des Wachskünstlers, der uns mit den Haaren zur Täuschung herbeiziehen will. Dage¬ gen betrachten wir mit Lust und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Wesen, Götter, Helden, Frauen vor's Auge füh¬ ren -- ihre marmorne Haut scheint uns nicht ge¬ spenstisch, eben so wenig ihr sternloses Auge; ja, wir würden eher von dieser Empfindung beschlichen werden, wenn ein solcher Stern des Marmorau¬ ges unsern Blicken begegnete. Wir sehen, der Künstler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬ len, er gab uns das Leben der Kunst ohne Wett¬ eifer mit dem Leben der Natürlichkeit, ohne Falsch¬ münzerei, wie der Wachsbossirer. Lebendig und wahr soll also die Kunst sein wie die Natur, aber
lebendigen ſind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬ denfalls aber keine Beweiſe großer Kunſt.
Wollte man ſie dafuͤr ausgeben, ſo waͤren Wachsfiguren die Meiſterwerke der Kunſt, ſie kom¬ men dem Leben am Naͤchſten, ſtehen aber eben deswegen vom Leben am Entfernteſten ab. Da¬ durch erregen ſie dem natuͤrlichen Betrachter den widerlichſten Eindruck. Sie ſtieren uns an, als wollten ſie uns weiß machen, daß ſie lebten, aber uns graut vor dieſem waͤchſernen Blick, vor die¬ ſen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und rothen Wangen und wir verwuͤnſchen die Finger¬ fertigkeit des Wachskuͤnſtlers, der uns mit den Haaren zur Taͤuſchung herbeiziehen will. Dage¬ gen betrachten wir mit Luſt und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Weſen, Goͤtter, Helden, Frauen vor's Auge fuͤh¬ ren — ihre marmorne Haut ſcheint uns nicht ge¬ ſpenſtiſch, eben ſo wenig ihr ſternloſes Auge; ja, wir wuͤrden eher von dieſer Empfindung beſchlichen werden, wenn ein ſolcher Stern des Marmorau¬ ges unſern Blicken begegnete. Wir ſehen, der Kuͤnſtler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬ len, er gab uns das Leben der Kunſt ohne Wett¬ eifer mit dem Leben der Natuͤrlichkeit, ohne Falſch¬ muͤnzerei, wie der Wachsboſſirer. Lebendig und wahr ſoll alſo die Kunſt ſein wie die Natur, aber
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[206/0220]
lebendigen ſind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬
denfalls aber keine Beweiſe großer Kunſt.
Wollte man ſie dafuͤr ausgeben, ſo waͤren
Wachsfiguren die Meiſterwerke der Kunſt, ſie kom¬
men dem Leben am Naͤchſten, ſtehen aber eben
deswegen vom Leben am Entfernteſten ab. Da¬
durch erregen ſie dem natuͤrlichen Betrachter den
widerlichſten Eindruck. Sie ſtieren uns an, als
wollten ſie uns weiß machen, daß ſie lebten, aber
uns graut vor dieſem waͤchſernen Blick, vor die¬
ſen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und
rothen Wangen und wir verwuͤnſchen die Finger¬
fertigkeit des Wachskuͤnſtlers, der uns mit den
Haaren zur Taͤuſchung herbeiziehen will. Dage¬
gen betrachten wir mit Luſt und Bewunderung
die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige
Weſen, Goͤtter, Helden, Frauen vor's Auge fuͤh¬
ren — ihre marmorne Haut ſcheint uns nicht ge¬
ſpenſtiſch, eben ſo wenig ihr ſternloſes Auge; ja,
wir wuͤrden eher von dieſer Empfindung beſchlichen
werden, wenn ein ſolcher Stern des Marmorau¬
ges unſern Blicken begegnete. Wir ſehen, der
Kuͤnſtler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬
len, er gab uns das Leben der Kunſt ohne Wett¬
eifer mit dem Leben der Natuͤrlichkeit, ohne Falſch¬
muͤnzerei, wie der Wachsboſſirer. Lebendig und
wahr ſoll alſo die Kunſt ſein wie die Natur, aber
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/220>, abgerufen am 18.12.2024.
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