Erwähnung altdeutscher Heldenlieder, welche Karl der Große zu sammeln befahl, setzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil seine künstliche Aeneis schrieb, das geschichtliche Lied von den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgesang in den Wäldern Germaniens wiederhallte. Noch zweifelloser ist die epische Na¬ tur der deutschen Poesie, die sich aus der Völker¬ wanderung entwickelt hat und worauf sich unsere heutige poetische Sprache, als auf ihre erste er¬ sichtliche Quelle zurückführt. Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die künstlerische Ver¬ einigung aller jener epischen Mythenstrahlen, welche seit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutschen Himmel überflogen, das Band der Rhapsodien, welche bis dahin, gleich den homerischen, von wandernden Sängern bei festlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden.
Fragen wir nach der Ursache, warum eben die älteste Poesie einen epischen Charakter trug, warum ein Homer früher kommen mußte, als ein Sophokles? Ich denke, wir können uns auf fol¬ gende Weise über diese Erscheinung verständigen. Je weiter man den ersten Anfängen einer Volks¬ geschichte nachgeht, desto lebhafter wird man an¬ gereizt durch einen stehenden Charakterzug, der die frühere Menschheit von der jetzigen unterscheidet.
Erwaͤhnung altdeutſcher Heldenlieder, welche Karl der Große zu ſammeln befahl, ſetzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil ſeine kuͤnſtliche Aeneis ſchrieb, das geſchichtliche Lied von den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgeſang in den Waͤldern Germaniens wiederhallte. Noch zweifelloſer iſt die epiſche Na¬ tur der deutſchen Poeſie, die ſich aus der Voͤlker¬ wanderung entwickelt hat und worauf ſich unſere heutige poetiſche Sprache, als auf ihre erſte er¬ ſichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt. Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnſtleriſche Ver¬ einigung aller jener epiſchen Mythenſtrahlen, welche ſeit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutſchen Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapſodien, welche bis dahin, gleich den homeriſchen, von wandernden Saͤngern bei feſtlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden.
Fragen wir nach der Urſache, warum eben die aͤlteſte Poeſie einen epiſchen Charakter trug, warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein Sophokles? Ich denke, wir koͤnnen uns auf fol¬ gende Weiſe uͤber dieſe Erſcheinung verſtaͤndigen. Je weiter man den erſten Anfaͤngen einer Volks¬ geſchichte nachgeht, deſto lebhafter wird man an¬ gereizt durch einen ſtehenden Charakterzug, der die fruͤhere Menſchheit von der jetzigen unterſcheidet.
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Erwaͤhnung altdeutſcher Heldenlieder, welche Karl
der Große zu ſammeln befahl, ſetzen es beinah
außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil ſeine
kuͤnſtliche Aeneis ſchrieb, das geſchichtliche Lied von
den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als
ein Naturgeſang in den Waͤldern Germaniens
wiederhallte. Noch zweifelloſer iſt die epiſche Na¬
tur der deutſchen Poeſie, die ſich aus der Voͤlker¬
wanderung entwickelt hat und worauf ſich unſere
heutige poetiſche Sprache, als auf ihre erſte er¬
ſichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt. Das Nibelungenlied
des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnſtleriſche Ver¬
einigung aller jener epiſchen Mythenſtrahlen, welche
ſeit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutſchen
Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapſodien,
welche bis dahin, gleich den homeriſchen, von
wandernden Saͤngern bei feſtlichen Gelegenheiten
einzeln vorgetragen wurden.
Fragen wir nach der Urſache, warum eben
die aͤlteſte Poeſie einen epiſchen Charakter trug,
warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein
Sophokles? Ich denke, wir koͤnnen uns auf fol¬
gende Weiſe uͤber dieſe Erſcheinung verſtaͤndigen.
Je weiter man den erſten Anfaͤngen einer Volks¬
geſchichte nachgeht, deſto lebhafter wird man an¬
gereizt durch einen ſtehenden Charakterzug, der die
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/253>, abgerufen am 22.11.2024.
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