Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite
I. 4. Drakons verfassung.

Ergebnis.Die attische chronik hatte den Drakon fast ganz vergessen, so weit
nicht seine gesetze in die Solons aufgenommen waren, wo einzelne als solche
bezeichnet waren. sie gab nur eine skizze der urverfassung des Theseus
und später der solonischen, die sie entsprechend ihrer demokratischen
tendenz im grunde mit der bestehenden gleich setzte. Drakon traf der
hass, weil sein name sich mit dem vorsolonischen zustande verbunden
hatte. diese unzulänglichkeit und ungenauigkeit hat Aristoteles durch-
schaut, ihr hat er nach kräften abgeholfen, indem er einen bericht über
Drakons verfassung einsetzte, den er bei den oligarchen von 411 ge-
funden hatte. die kreise des Antiphon und Theramenes hatten ein ge-
schichtliches und praktisches interesse an der zeit, da Athen noch nicht
demokratisch war, und damals, wo man bei der codification des rechts
auf die alten gesetzestafeln zurückgriff, verfügte man auch noch über
einige, für unsere wünsche freilich längst nicht genügende kenntnis
der alten satzungen. wir sind beiden, dem Aristoteles wie seinen ge-
währsmännern, zu lebhaftestem danke verpflichtet. und wenn sie uns
hier dazu verhelfen, die demokratischen fabeln von den blutgeschriebenen
drakontischen gesetzen durch ächte überlieferung zu ersetzen, so wollen
wir das in die wagschale werfen, wenn wir sie ihrerseits bei der ver-
breitung und erfindung übler geschichten betreffen werden, die wider
die demokratie gerichtet sind. denn über die am anfange des capitels
aufgeworfene frage, ob diese drakontische verfassung nicht selbst eine
oligarchische erfindung wäre, brauche ich für den leser, der bis hierher
gefolgt ist, kein wort mehr zu verlieren.


nicht einhelligkeit erzwingen dürfen, lehrt die note des Eusebius. auch das ver-
hältnis der gesetzgebung zu dem gerichte über die Alkmeoniden ist keinesweges
gleichmässig und sicher überliefert. wäre Drakon archon gewesen, so würde das
datum nicht oder kaum geschwankt haben. aber er war es nicht. Pausanias
(IX 36) sagt in seinem stile ganz deutlich, dass er thesmothet war, Drakontos Athe-
naiois thesmothetesantos ek ton ekeinou kateste nomon ous egraphen epi tes
arkhes. wenn das auf das archontenamt gedeutet worden ist, so ist es nicht die schuld
des Pausanias. in der beamtenliste des Aristaichmos also figurirte er als thesmothet:
dahin setzen einige seine gesetzgebung, und so Aristoteles, andere müssen auf andere
indicien hin anders geschlossen haben, und zwingend ist ja jener schluss keinesweges.
I. 4. Drakons verfassung.

Ergebnis.Die attische chronik hatte den Drakon fast ganz vergessen, so weit
nicht seine gesetze in die Solons aufgenommen waren, wo einzelne als solche
bezeichnet waren. sie gab nur eine skizze der urverfassung des Theseus
und später der solonischen, die sie entsprechend ihrer demokratischen
tendenz im grunde mit der bestehenden gleich setzte. Drakon traf der
haſs, weil sein name sich mit dem vorsolonischen zustande verbunden
hatte. diese unzulänglichkeit und ungenauigkeit hat Aristoteles durch-
schaut, ihr hat er nach kräften abgeholfen, indem er einen bericht über
Drakons verfassung einsetzte, den er bei den oligarchen von 411 ge-
funden hatte. die kreise des Antiphon und Theramenes hatten ein ge-
schichtliches und praktisches interesse an der zeit, da Athen noch nicht
demokratisch war, und damals, wo man bei der codification des rechts
auf die alten gesetzestafeln zurückgriff, verfügte man auch noch über
einige, für unsere wünsche freilich längst nicht genügende kenntnis
der alten satzungen. wir sind beiden, dem Aristoteles wie seinen ge-
währsmännern, zu lebhaftestem danke verpflichtet. und wenn sie uns
hier dazu verhelfen, die demokratischen fabeln von den blutgeschriebenen
drakontischen gesetzen durch ächte überlieferung zu ersetzen, so wollen
wir das in die wagschale werfen, wenn wir sie ihrerseits bei der ver-
breitung und erfindung übler geschichten betreffen werden, die wider
die demokratie gerichtet sind. denn über die am anfange des capitels
aufgeworfene frage, ob diese drakontische verfassung nicht selbst eine
oligarchische erfindung wäre, brauche ich für den leser, der bis hierher
gefolgt ist, kein wort mehr zu verlieren.


nicht einhelligkeit erzwingen dürfen, lehrt die note des Eusebius. auch das ver-
hältnis der gesetzgebung zu dem gerichte über die Alkmeoniden ist keinesweges
gleichmäſsig und sicher überliefert. wäre Drakon archon gewesen, so würde das
datum nicht oder kaum geschwankt haben. aber er war es nicht. Pausanias
(IX 36) sagt in seinem stile ganz deutlich, daſs er thesmothet war, Δϱάκοντος Ἀϑη-
ναίοις ϑεσμοϑετήσαντος ἐκ τῶν ἐκείνου κατέστη νόμων οὓς ἔγϱαφεν ἐπὶ τῆς
ἀϱχῆς. wenn das auf das archontenamt gedeutet worden ist, so ist es nicht die schuld
des Pausanias. in der beamtenliste des Aristaichmos also figurirte er als thesmothet:
dahin setzen einige seine gesetzgebung, und so Aristoteles, andere müssen auf andere
indicien hin anders geschlossen haben, und zwingend ist ja jener schluſs keinesweges.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0112" n="98"/>
          <fw place="top" type="header">I. 4. Drakons verfassung.</fw><lb/>
          <p><note place="left">Ergebnis.</note>Die attische chronik hatte den Drakon fast ganz vergessen, so weit<lb/>
nicht seine gesetze in die Solons aufgenommen waren, wo einzelne als solche<lb/>
bezeichnet waren. sie gab nur eine skizze der urverfassung des Theseus<lb/>
und später der solonischen, die sie entsprechend ihrer demokratischen<lb/>
tendenz im grunde mit der bestehenden gleich setzte. Drakon traf der<lb/>
ha&#x017F;s, weil sein name sich mit dem vorsolonischen zustande verbunden<lb/>
hatte. diese unzulänglichkeit und ungenauigkeit hat Aristoteles durch-<lb/>
schaut, ihr hat er nach kräften abgeholfen, indem er einen bericht über<lb/>
Drakons verfassung einsetzte, den er bei den oligarchen von 411 ge-<lb/>
funden hatte. die kreise des Antiphon und Theramenes hatten ein ge-<lb/>
schichtliches und praktisches interesse an der zeit, da Athen noch nicht<lb/>
demokratisch war, und damals, wo man bei der codification des rechts<lb/>
auf die alten gesetzestafeln zurückgriff, verfügte man auch noch über<lb/>
einige, für unsere wünsche freilich längst nicht genügende kenntnis<lb/>
der alten satzungen. wir sind beiden, dem Aristoteles wie seinen ge-<lb/>
währsmännern, zu lebhaftestem danke verpflichtet. und wenn sie uns<lb/>
hier dazu verhelfen, die demokratischen fabeln von den blutgeschriebenen<lb/>
drakontischen gesetzen durch ächte überlieferung zu ersetzen, so wollen<lb/>
wir das in die wagschale werfen, wenn wir sie ihrerseits bei der ver-<lb/>
breitung und erfindung übler geschichten betreffen werden, die wider<lb/>
die demokratie gerichtet sind. denn über die am anfange des capitels<lb/>
aufgeworfene frage, ob diese drakontische verfassung nicht selbst eine<lb/>
oligarchische erfindung wäre, brauche ich für den leser, der bis hierher<lb/>
gefolgt ist, kein wort mehr zu verlieren.</p><lb/>
          <note xml:id="note-0112" prev="#note-0111" place="foot" n="33)">nicht einhelligkeit erzwingen dürfen, lehrt die note des Eusebius. auch das ver-<lb/>
hältnis der gesetzgebung zu dem gerichte über die Alkmeoniden ist keinesweges<lb/>
gleichmä&#x017F;sig und sicher überliefert. wäre Drakon archon gewesen, so würde das<lb/>
datum nicht oder kaum geschwankt haben. aber er war es nicht. Pausanias<lb/>
(IX 36) sagt in seinem stile ganz deutlich, da&#x017F;s er thesmothet war, &#x0394;&#x03F1;&#x03AC;&#x03BA;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F08;&#x03D1;&#x03B7;-<lb/>
&#x03BD;&#x03B1;&#x03AF;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C2; &#x03D1;&#x03B5;&#x03C3;&#x03BC;&#x03BF;&#x03D1;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AE;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F10;&#x03BA; &#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BA;&#x03B5;&#x03AF;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C5; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x03AD;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B7; &#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03C9;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F53;&#x03C2; &#x1F14;&#x03B3;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C6;&#x03B5;&#x03BD; &#x1F10;&#x03C0;&#x1F76; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2;<lb/>
&#x1F00;&#x03F1;&#x03C7;&#x1FC6;&#x03C2;. wenn das auf das archontenamt gedeutet worden ist, so ist es nicht die schuld<lb/>
des Pausanias. in der beamtenliste des Aristaichmos also figurirte er als thesmothet:<lb/>
dahin setzen einige seine gesetzgebung, und so Aristoteles, andere müssen auf andere<lb/>
indicien hin anders geschlossen haben, und zwingend ist ja jener schlu&#x017F;s keinesweges.</note>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0112] I. 4. Drakons verfassung. Die attische chronik hatte den Drakon fast ganz vergessen, so weit nicht seine gesetze in die Solons aufgenommen waren, wo einzelne als solche bezeichnet waren. sie gab nur eine skizze der urverfassung des Theseus und später der solonischen, die sie entsprechend ihrer demokratischen tendenz im grunde mit der bestehenden gleich setzte. Drakon traf der haſs, weil sein name sich mit dem vorsolonischen zustande verbunden hatte. diese unzulänglichkeit und ungenauigkeit hat Aristoteles durch- schaut, ihr hat er nach kräften abgeholfen, indem er einen bericht über Drakons verfassung einsetzte, den er bei den oligarchen von 411 ge- funden hatte. die kreise des Antiphon und Theramenes hatten ein ge- schichtliches und praktisches interesse an der zeit, da Athen noch nicht demokratisch war, und damals, wo man bei der codification des rechts auf die alten gesetzestafeln zurückgriff, verfügte man auch noch über einige, für unsere wünsche freilich längst nicht genügende kenntnis der alten satzungen. wir sind beiden, dem Aristoteles wie seinen ge- währsmännern, zu lebhaftestem danke verpflichtet. und wenn sie uns hier dazu verhelfen, die demokratischen fabeln von den blutgeschriebenen drakontischen gesetzen durch ächte überlieferung zu ersetzen, so wollen wir das in die wagschale werfen, wenn wir sie ihrerseits bei der ver- breitung und erfindung übler geschichten betreffen werden, die wider die demokratie gerichtet sind. denn über die am anfange des capitels aufgeworfene frage, ob diese drakontische verfassung nicht selbst eine oligarchische erfindung wäre, brauche ich für den leser, der bis hierher gefolgt ist, kein wort mehr zu verlieren. Ergebnis. 33) 33) nicht einhelligkeit erzwingen dürfen, lehrt die note des Eusebius. auch das ver- hältnis der gesetzgebung zu dem gerichte über die Alkmeoniden ist keinesweges gleichmäſsig und sicher überliefert. wäre Drakon archon gewesen, so würde das datum nicht oder kaum geschwankt haben. aber er war es nicht. Pausanias (IX 36) sagt in seinem stile ganz deutlich, daſs er thesmothet war, Δϱάκοντος Ἀϑη- ναίοις ϑεσμοϑετήσαντος ἐκ τῶν ἐκείνου κατέστη νόμων οὓς ἔγϱαφεν ἐπὶ τῆς ἀϱχῆς. wenn das auf das archontenamt gedeutet worden ist, so ist es nicht die schuld des Pausanias. in der beamtenliste des Aristaichmos also figurirte er als thesmothet: dahin setzen einige seine gesetzgebung, und so Aristoteles, andere müssen auf andere indicien hin anders geschlossen haben, und zwingend ist ja jener schluſs keinesweges.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/112
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/112>, abgerufen am 21.11.2024.