Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
kratische verfassung zu mässigen, ist nach 403 erstorben. das ist aller-
dings von bedeutung; aber wenn der athenische staat von der zeit ab,
wo wir seine parteien und deren kämpfe genauer kennen, vom tode
des Perikles ab, sich weder dem schematismus des Aristoteles und der
modernen, die nach römischem und englischem vorbilde zwei parteien
suchen, fügt90), vorher ein so überwiegend einflussreicher mann da steht,
dass parteien höchstens unter ihm vorhanden sein können, wenn wir
weiter sehen, dass bis dicht an die Perserkriege nicht politische auf schlag-
wörter eingeschworne parteien, sondern die grossen familien und ihr
anhang einander gegenüberstehen, bis auf Ephialtes aber nicht eine
partei, sondern eine politische körperschaft den ausschlag gibt, deren
sturz dann eine andere körperschaft zur herrschaft bringt, den rat der
500 statt des areopagitischen, so muss der moderne beurteiler zu der
für die geschichtsbetrachtung allerdings entscheidenden einsicht kommen,
dass die ganze diadokhe demagogon eine vollkommen ungeschicht-
liche erfindung ist, uns äusserst wertvoll, weil die schätzung der personen
und die politische theorie sie noch im fünften jahrhundert aufgebracht
hat, von dem niemand eine gerechte selbstbeurteilung fordern wird, aber
um so weniger für uns verbindlich, als die urteilsvollsten männer schon
damals zu tief geblickt haben, um sich dabei zu beruhigen. hoch
erhaben über dieser kleinlichkeit steht Thukydides: seinen horizont bildet
eben nicht die pnyx, sondern das Reich. und Platon teilt freilich die
ungerechtigkeit der persönlichen urteile über die staatsmänner als jüng-
ling; aber schon damals hat er sie, die nur volksschmeichler sind, hinter
dem volke selbst zurücktreten lassen. bald drang er zu der tiefsinnigen
auffassung durch, dass die verfassungen bedingt sind durch die ganze
geistige disposition der menschen, die sie sich machen, und demgemäss
die veränderungen in der volksseele den wandel der verfassungen bedingen:
der aristokratikos timokratikos demokratikos aner schafft sich seine
gesellschafts- und staatsordnung. wir reden anders als der Sokrates der
letzten bücher des Staates, und unserer redeweise ist die der aristoteli-
schen Politik viel näher verwandt: aber wer sich in jene ächthellenischen

90) Der gegensatz zwischen Nikias und Kleon, wie ihn Thukydides in der
beratung über die pylische strategie dramatisch schildert, täuscht, wenn er zu
einem gegensatze von zwei parteien erweitert wird: man braucht nur Demosthenes
zu nennen oder die Ritter zu lesen, damit man sehe, dass weder hie conservativ,
dort liberal, noch hie feldherr, dort redner, das ganze volk aufteilt. ebensowenig
repraesentiren Nikias und Alkibiades vor der sicilischen expedition die beiden
parteien: wo blieben sonst die Hermokopiden?

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
kratische verfassung zu mäſsigen, ist nach 403 erstorben. das ist aller-
dings von bedeutung; aber wenn der athenische staat von der zeit ab,
wo wir seine parteien und deren kämpfe genauer kennen, vom tode
des Perikles ab, sich weder dem schematismus des Aristoteles und der
modernen, die nach römischem und englischem vorbilde zwei parteien
suchen, fügt90), vorher ein so überwiegend einfluſsreicher mann da steht,
daſs parteien höchstens unter ihm vorhanden sein können, wenn wir
weiter sehen, daſs bis dicht an die Perserkriege nicht politische auf schlag-
wörter eingeschworne parteien, sondern die groſsen familien und ihr
anhang einander gegenüberstehen, bis auf Ephialtes aber nicht eine
partei, sondern eine politische körperschaft den ausschlag gibt, deren
sturz dann eine andere körperschaft zur herrschaft bringt, den rat der
500 statt des areopagitischen, so muſs der moderne beurteiler zu der
für die geschichtsbetrachtung allerdings entscheidenden einsicht kommen,
daſs die ganze διαδοχὴ δημαγωγῶν eine vollkommen ungeschicht-
liche erfindung ist, uns äuſserst wertvoll, weil die schätzung der personen
und die politische theorie sie noch im fünften jahrhundert aufgebracht
hat, von dem niemand eine gerechte selbstbeurteilung fordern wird, aber
um so weniger für uns verbindlich, als die urteilsvollsten männer schon
damals zu tief geblickt haben, um sich dabei zu beruhigen. hoch
erhaben über dieser kleinlichkeit steht Thukydides: seinen horizont bildet
eben nicht die pnyx, sondern das Reich. und Platon teilt freilich die
ungerechtigkeit der persönlichen urteile über die staatsmänner als jüng-
ling; aber schon damals hat er sie, die nur volksschmeichler sind, hinter
dem volke selbst zurücktreten lassen. bald drang er zu der tiefsinnigen
auffassung durch, daſs die verfassungen bedingt sind durch die ganze
geistige disposition der menschen, die sie sich machen, und demgemäſs
die veränderungen in der volksseele den wandel der verfassungen bedingen:
der ἀϱιστοκϱατικὸς τιμοκϱατικὸς δημοκϱατικὸς ἀνήϱ schafft sich seine
gesellschafts- und staatsordnung. wir reden anders als der Sokrates der
letzten bücher des Staates, und unserer redeweise ist die der aristoteli-
schen Politik viel näher verwandt: aber wer sich in jene ächthellenischen

90) Der gegensatz zwischen Nikias und Kleon, wie ihn Thukydides in der
beratung über die pylische strategie dramatisch schildert, täuscht, wenn er zu
einem gegensatze von zwei parteien erweitert wird: man braucht nur Demosthenes
zu nennen oder die Ritter zu lesen, damit man sehe, daſs weder hie conservativ,
dort liberal, noch hie feldherr, dort redner, das ganze volk aufteilt. ebensowenig
repraesentiren Nikias und Alkibiades vor der sicilischen expedition die beiden
parteien: wo blieben sonst die Hermokopiden?
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0198" n="184"/><fw place="top" type="header">I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.</fw><lb/>
kratische verfassung zu mä&#x017F;sigen, ist nach 403 erstorben. das ist aller-<lb/>
dings von bedeutung; aber wenn der athenische staat von der zeit ab,<lb/>
wo wir seine parteien und deren kämpfe genauer kennen, vom tode<lb/>
des Perikles ab, sich weder dem schematismus des Aristoteles und der<lb/>
modernen, die nach römischem und englischem vorbilde zwei parteien<lb/>
suchen, fügt<note place="foot" n="90)">Der gegensatz zwischen Nikias und Kleon, wie ihn Thukydides in der<lb/>
beratung über die pylische strategie dramatisch schildert, täuscht, wenn er zu<lb/>
einem gegensatze von zwei parteien erweitert wird: man braucht nur Demosthenes<lb/>
zu nennen oder die Ritter zu lesen, damit man sehe, da&#x017F;s weder hie conservativ,<lb/>
dort liberal, noch hie feldherr, dort redner, das ganze volk aufteilt. ebensowenig<lb/>
repraesentiren Nikias und Alkibiades vor der sicilischen expedition die beiden<lb/>
parteien: wo blieben sonst die Hermokopiden?</note>, vorher ein so überwiegend einflu&#x017F;sreicher mann da steht,<lb/>
da&#x017F;s parteien höchstens unter ihm vorhanden sein können, wenn wir<lb/>
weiter sehen, da&#x017F;s bis dicht an die Perserkriege nicht politische auf schlag-<lb/>
wörter eingeschworne parteien, sondern die gro&#x017F;sen familien und ihr<lb/>
anhang einander gegenüberstehen, bis auf Ephialtes aber nicht eine<lb/>
partei, sondern eine politische körperschaft den ausschlag gibt, deren<lb/>
sturz dann eine andere körperschaft zur herrschaft bringt, den rat der<lb/>
500 statt des areopagitischen, so mu&#x017F;s der moderne beurteiler zu der<lb/>
für die geschichtsbetrachtung allerdings entscheidenden einsicht kommen,<lb/>
da&#x017F;s die ganze &#x03B4;&#x03B9;&#x03B1;&#x03B4;&#x03BF;&#x03C7;&#x1F74; &#x03B4;&#x03B7;&#x03BC;&#x03B1;&#x03B3;&#x03C9;&#x03B3;&#x1FF6;&#x03BD; eine vollkommen ungeschicht-<lb/>
liche erfindung ist, uns äu&#x017F;serst wertvoll, weil die schätzung der personen<lb/>
und die politische theorie sie noch im fünften jahrhundert aufgebracht<lb/>
hat, von dem niemand eine gerechte selbstbeurteilung fordern wird, aber<lb/>
um so weniger für uns verbindlich, als die urteilsvollsten männer schon<lb/>
damals zu tief geblickt haben, um sich dabei zu beruhigen. hoch<lb/>
erhaben über dieser kleinlichkeit steht Thukydides: seinen horizont bildet<lb/>
eben nicht die pnyx, sondern das Reich. und Platon teilt freilich die<lb/>
ungerechtigkeit der persönlichen urteile über die staatsmänner als jüng-<lb/>
ling; aber schon damals hat er sie, die nur volksschmeichler sind, hinter<lb/>
dem volke selbst zurücktreten lassen. bald drang er zu der tiefsinnigen<lb/>
auffassung durch, da&#x017F;s die verfassungen bedingt sind durch die ganze<lb/>
geistige disposition der menschen, die sie sich machen, und demgemä&#x017F;s<lb/>
die veränderungen in der volksseele den wandel der verfassungen bedingen:<lb/>
der &#x1F00;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BA;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BA;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F78;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B7;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BA;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F78;&#x03C2; &#x1F00;&#x03BD;&#x03AE;&#x03F1; schafft sich seine<lb/>
gesellschafts- und staatsordnung. wir reden anders als der Sokrates der<lb/>
letzten bücher des Staates, und unserer redeweise ist die der aristoteli-<lb/>
schen Politik viel näher verwandt: aber wer sich in jene ächthellenischen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0198] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. kratische verfassung zu mäſsigen, ist nach 403 erstorben. das ist aller- dings von bedeutung; aber wenn der athenische staat von der zeit ab, wo wir seine parteien und deren kämpfe genauer kennen, vom tode des Perikles ab, sich weder dem schematismus des Aristoteles und der modernen, die nach römischem und englischem vorbilde zwei parteien suchen, fügt 90), vorher ein so überwiegend einfluſsreicher mann da steht, daſs parteien höchstens unter ihm vorhanden sein können, wenn wir weiter sehen, daſs bis dicht an die Perserkriege nicht politische auf schlag- wörter eingeschworne parteien, sondern die groſsen familien und ihr anhang einander gegenüberstehen, bis auf Ephialtes aber nicht eine partei, sondern eine politische körperschaft den ausschlag gibt, deren sturz dann eine andere körperschaft zur herrschaft bringt, den rat der 500 statt des areopagitischen, so muſs der moderne beurteiler zu der für die geschichtsbetrachtung allerdings entscheidenden einsicht kommen, daſs die ganze διαδοχὴ δημαγωγῶν eine vollkommen ungeschicht- liche erfindung ist, uns äuſserst wertvoll, weil die schätzung der personen und die politische theorie sie noch im fünften jahrhundert aufgebracht hat, von dem niemand eine gerechte selbstbeurteilung fordern wird, aber um so weniger für uns verbindlich, als die urteilsvollsten männer schon damals zu tief geblickt haben, um sich dabei zu beruhigen. hoch erhaben über dieser kleinlichkeit steht Thukydides: seinen horizont bildet eben nicht die pnyx, sondern das Reich. und Platon teilt freilich die ungerechtigkeit der persönlichen urteile über die staatsmänner als jüng- ling; aber schon damals hat er sie, die nur volksschmeichler sind, hinter dem volke selbst zurücktreten lassen. bald drang er zu der tiefsinnigen auffassung durch, daſs die verfassungen bedingt sind durch die ganze geistige disposition der menschen, die sie sich machen, und demgemäſs die veränderungen in der volksseele den wandel der verfassungen bedingen: der ἀϱιστοκϱατικὸς τιμοκϱατικὸς δημοκϱατικὸς ἀνήϱ schafft sich seine gesellschafts- und staatsordnung. wir reden anders als der Sokrates der letzten bücher des Staates, und unserer redeweise ist die der aristoteli- schen Politik viel näher verwandt: aber wer sich in jene ächthellenischen 90) Der gegensatz zwischen Nikias und Kleon, wie ihn Thukydides in der beratung über die pylische strategie dramatisch schildert, täuscht, wenn er zu einem gegensatze von zwei parteien erweitert wird: man braucht nur Demosthenes zu nennen oder die Ritter zu lesen, damit man sehe, daſs weder hie conservativ, dort liberal, noch hie feldherr, dort redner, das ganze volk aufteilt. ebensowenig repraesentiren Nikias und Alkibiades vor der sicilischen expedition die beiden parteien: wo blieben sonst die Hermokopiden?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/198
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/198>, abgerufen am 24.11.2024.