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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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7.
DIE VERFASSUNG.

Die
elf ver-
fassungen.
Der geschichtliche teil des buches erhält seinen abschluss durch die
aufzählung der elf verfassungen (41), an sich eine jener langweiligen
recapitulationen, an denen die akroamatischen schriften so reich sind, und
man möchte auch mit Aristoteles über einzelne seiner ansätze rechten.1)
aber es liegt eine scharfe schweigende kritik der demokratie in der
kühlen sachlichkeit, mit der diese liste dem attischen glauben an die
continuität der theseisch-solonischen demokratie widerspricht. sehr viel
gerechter würde die kritik freilich sein, wenn Aristoteles dargelegt hätte,
wie unendlich viel seit 403 an der verfassung im einzelnen herum-
experimentirt war; aber das war ihm bedenklich: hatten doch gerade
in den jüngsten zeiten durch Lykurgos die einschneidendsten änderungen
stattgefunden, und schwerlich war die verfassung von 330 der von 390
so ähnlich wie die von 460 der von 478. aber hier beschränkt sich
Aristoteles darauf, die restaurirte demokratie als eine einheit zu be-

1) Darum, dass eine revolution sie 4 monate unterbrach, ist es doch eine
demokratie von 461--404: er gibt ja auch keine unterschiede an. ferner sagt er
selbst, dass der einfluss des Areopages 480--461 nur ein factischer war, so dass
also rechtlich damals keine andere verfassung bestand als 507--480, und von einer
metabole keine rede sein konnte. sonst hätte er die beiden verbannungen des
Peisistratos eben so gut als metabolai zählen können wie die revolutionen von
411 und 404. in wahrheit hat er nur 4 verfassungen skizzirt, die älteste, immerhin
nachtheseische, die des Drakon, des Solon und die der 400: mit andern worten, er hat
seit Kleisthenes dieselbe demokratie bestehn lassen bis auf seine zeit. dann besass
diese demokratie aber eine keinesweges verächtliche lebenskraft: was die folgenden
jahrhunderte auch bestätigt haben. -- 41, 2 scheint die verdorbene und von dem
corrector nicht geheilte stelle in so weit heilbar dass für prote -- ekhousai politeian
taxin gesetzt wird ekhousa ti politeias taxis, denn Pol. B 1272b steht ekhei ti
politeias e taxis all ou politeia estin. aber was dazwischen steht, meta tauta,
vielleicht meta tauten (obwol ich das N nicht sehe), bleibt völlig unverständlich,
da es abundirend, wie später mehrfach, doch nur zu deutera gesetzt werden konnte.
7.
DIE VERFASSUNG.

Die
elf ver-
fassungen.
Der geschichtliche teil des buches erhält seinen abschluſs durch die
aufzählung der elf verfassungen (41), an sich eine jener langweiligen
recapitulationen, an denen die akroamatischen schriften so reich sind, und
man möchte auch mit Aristoteles über einzelne seiner ansätze rechten.1)
aber es liegt eine scharfe schweigende kritik der demokratie in der
kühlen sachlichkeit, mit der diese liste dem attischen glauben an die
continuität der theseisch-solonischen demokratie widerspricht. sehr viel
gerechter würde die kritik freilich sein, wenn Aristoteles dargelegt hätte,
wie unendlich viel seit 403 an der verfassung im einzelnen herum-
experimentirt war; aber das war ihm bedenklich: hatten doch gerade
in den jüngsten zeiten durch Lykurgos die einschneidendsten änderungen
stattgefunden, und schwerlich war die verfassung von 330 der von 390
so ähnlich wie die von 460 der von 478. aber hier beschränkt sich
Aristoteles darauf, die restaurirte demokratie als eine einheit zu be-

1) Darum, daſs eine revolution sie 4 monate unterbrach, ist es doch eine
demokratie von 461—404: er gibt ja auch keine unterschiede an. ferner sagt er
selbst, daſs der einfluſs des Àreopages 480—461 nur ein factischer war, so daſs
also rechtlich damals keine andere verfassung bestand als 507—480, und von einer
μεταβολή keine rede sein konnte. sonst hätte er die beiden verbannungen des
Peisistratos eben so gut als μεταβολαί zählen können wie die revolutionen von
411 und 404. in wahrheit hat er nur 4 verfassungen skizzirt, die älteste, immerhin
nachtheseische, die des Drakon, des Solon und die der 400: mit andern worten, er hat
seit Kleisthenes dieselbe demokratie bestehn lassen bis auf seine zeit. dann besaſs
diese demokratie aber eine keinesweges verächtliche lebenskraft: was die folgenden
jahrhunderte auch bestätigt haben. — 41, 2 scheint die verdorbene und von dem
corrector nicht geheilte stelle in so weit heilbar daſs für πϱώτη — εχουσαι πολιτειαν
ταξιν gesetzt wird ἔχουσά τι πολιτείας τάξις, denn Pol. B 1272b steht ἔχει τι
πολιτείας ἡ τάξις ἀλλ̕ οὐ πολιτεία ἐστίν. aber was dazwischen steht, μετὰ ταῦτα,
vielleicht μετὰ ταύτην (obwol ich das N nicht sehe), bleibt völlig unverständlich,
da es abundirend, wie später mehrfach, doch nur zu δευτέϱα gesetzt werden konnte.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. [186]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/200>, abgerufen am 21.11.2024.