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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 8. Die Atthis.
für den tod des Simonides und Aischylos, den fall eines meteorsteins
am Ziegenflusse und der sonnenfinsternis von 463 ohne eine gleich-
zeitige schriftliche aufzeichnung nicht denken kann. der ausweg einer
ausserattischen überlieferung ist für manches, aber durchaus nicht für
alles vorhanden. eine litteratur aber gab es damals noch nicht in Athen.
nun aber die ostrakismen der achtziger jahre und die angabe, dass ihnen
kein anderer vorhergegangen war, während das gesetz doch älter war:
soll die jemand aus den ratsprotokollen der sämmtlichen sechsten pry-
tanien geholt haben? noch viel weniger kann die genealogie und die
chronologie des Peisistratos, das todesjahr Solons, die tyrannis des
Damasias, das schiedsgericht der fünf Spartiaten über Salamis, das adels-
gericht der 300 und der ankläger Myron von Phlya in den acten ge-
standen haben. wer seine augen nicht selbst zumacht, kann hier die
gleichzeitigen aufzeichnungen nicht verkennen. für den geschichtlichen
wert macht es wenig aus, ob man nun eine mehrheit solcher aufzeich-
nungen annimmt oder den grundstock einer chronik: und über den
wert entscheidet die chronologie, die namenliste in ihrer einheitlichkeit
und zuverlässigkeit. dass es nur misverständnisse und die trägheit des
vorurteils sind, die an dieser rütteln, hat sich bisher schon jedesmal
gezeigt, und die beilage über die chronologie der pentekontaetie wird
weitere belege bieten. und keinesweges bloss die beamten, die dem
jahre den namen gaben, waren bekannt. die strategenliste von 441/0
gibt uns Androtion noch. Plutarchs gewährsmann konnte angeben, dass
Perikles nie ein archon gewesen ist, und Kleidemos bezeichnet den
tyrannenfreund Charmos als o polemarkhesas (Athen. XIII 609). 30) wie
denkt man sich das eigentlich, dass eine solche beamtenliste existirt und
ihr keine geschichtlichen angaben beigefügt sein sollen? wenn sie es
waren, auch nur in der ausdehnung, wie wir es bei Aristoteles für die
jahre 590--80 lesen, was ist das anders als eine chronik von Athen?

Es kommen nun indicien hinzu, die eine gewisse schriftstellerische
haltung erkennen lassen. erst unter Solon fand Aristoteles eine schil-
derung der verfassung, zum teil auf rückschlüsse aufgebaut, und sie
ignorirte die verfassung Drakons, Solon aber war der grosse volksmann.
das hat seine bedeutung, einmal negativ: die zeitgenössische chronik
gab für ihn noch bitter wenig, was wir wol beherzigen müssen; zum

30) Der polemarch Epilykos, der das haus dieses beamten vor Solon neu baute,
mag seinen namen und sein amt angeschrieben haben; deshalb nenne ich ihn nicht
mit als beleg für eine beamtenliste des siebenten jahrhunderts.

I. 8. Die Atthis.
für den tod des Simonides und Aischylos, den fall eines meteorsteins
am Ziegenflusse und der sonnenfinsternis von 463 ohne eine gleich-
zeitige schriftliche aufzeichnung nicht denken kann. der ausweg einer
auſserattischen überlieferung ist für manches, aber durchaus nicht für
alles vorhanden. eine litteratur aber gab es damals noch nicht in Athen.
nun aber die ostrakismen der achtziger jahre und die angabe, daſs ihnen
kein anderer vorhergegangen war, während das gesetz doch älter war:
soll die jemand aus den ratsprotokollen der sämmtlichen sechsten pry-
tanien geholt haben? noch viel weniger kann die genealogie und die
chronologie des Peisistratos, das todesjahr Solons, die tyrannis des
Damasias, das schiedsgericht der fünf Spartiaten über Salamis, das adels-
gericht der 300 und der ankläger Myron von Phlya in den acten ge-
standen haben. wer seine augen nicht selbst zumacht, kann hier die
gleichzeitigen aufzeichnungen nicht verkennen. für den geschichtlichen
wert macht es wenig aus, ob man nun eine mehrheit solcher aufzeich-
nungen annimmt oder den grundstock einer chronik: und über den
wert entscheidet die chronologie, die namenliste in ihrer einheitlichkeit
und zuverlässigkeit. daſs es nur misverständnisse und die trägheit des
vorurteils sind, die an dieser rütteln, hat sich bisher schon jedesmal
gezeigt, und die beilage über die chronologie der pentekontaetie wird
weitere belege bieten. und keinesweges bloſs die beamten, die dem
jahre den namen gaben, waren bekannt. die strategenliste von 441/0
gibt uns Androtion noch. Plutarchs gewährsmann konnte angeben, daſs
Perikles nie ein archon gewesen ist, und Kleidemos bezeichnet den
tyrannenfreund Charmos als ὁ πολεμαϱχήσας (Athen. XIII 609). 30) wie
denkt man sich das eigentlich, daſs eine solche beamtenliste existirt und
ihr keine geschichtlichen angaben beigefügt sein sollen? wenn sie es
waren, auch nur in der ausdehnung, wie wir es bei Aristoteles für die
jahre 590—80 lesen, was ist das anders als eine chronik von Athen?

Es kommen nun indicien hinzu, die eine gewisse schriftstellerische
haltung erkennen lassen. erst unter Solon fand Aristoteles eine schil-
derung der verfassung, zum teil auf rückschlüsse aufgebaut, und sie
ignorirte die verfassung Drakons, Solon aber war der groſse volksmann.
das hat seine bedeutung, einmal negativ: die zeitgenössische chronik
gab für ihn noch bitter wenig, was wir wol beherzigen müssen; zum

30) Der polemarch Epilykos, der das haus dieses beamten vor Solon neu baute,
mag seinen namen und sein amt angeschrieben haben; deshalb nenne ich ihn nicht
mit als beleg für eine beamtenliste des siebenten jahrhunderts.
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[278/0292] I. 8. Die Atthis. für den tod des Simonides und Aischylos, den fall eines meteorsteins am Ziegenflusse und der sonnenfinsternis von 463 ohne eine gleich- zeitige schriftliche aufzeichnung nicht denken kann. der ausweg einer auſserattischen überlieferung ist für manches, aber durchaus nicht für alles vorhanden. eine litteratur aber gab es damals noch nicht in Athen. nun aber die ostrakismen der achtziger jahre und die angabe, daſs ihnen kein anderer vorhergegangen war, während das gesetz doch älter war: soll die jemand aus den ratsprotokollen der sämmtlichen sechsten pry- tanien geholt haben? noch viel weniger kann die genealogie und die chronologie des Peisistratos, das todesjahr Solons, die tyrannis des Damasias, das schiedsgericht der fünf Spartiaten über Salamis, das adels- gericht der 300 und der ankläger Myron von Phlya in den acten ge- standen haben. wer seine augen nicht selbst zumacht, kann hier die gleichzeitigen aufzeichnungen nicht verkennen. für den geschichtlichen wert macht es wenig aus, ob man nun eine mehrheit solcher aufzeich- nungen annimmt oder den grundstock einer chronik: und über den wert entscheidet die chronologie, die namenliste in ihrer einheitlichkeit und zuverlässigkeit. daſs es nur misverständnisse und die trägheit des vorurteils sind, die an dieser rütteln, hat sich bisher schon jedesmal gezeigt, und die beilage über die chronologie der pentekontaetie wird weitere belege bieten. und keinesweges bloſs die beamten, die dem jahre den namen gaben, waren bekannt. die strategenliste von 441/0 gibt uns Androtion noch. Plutarchs gewährsmann konnte angeben, daſs Perikles nie ein archon gewesen ist, und Kleidemos bezeichnet den tyrannenfreund Charmos als ὁ πολεμαϱχήσας (Athen. XIII 609). 30) wie denkt man sich das eigentlich, daſs eine solche beamtenliste existirt und ihr keine geschichtlichen angaben beigefügt sein sollen? wenn sie es waren, auch nur in der ausdehnung, wie wir es bei Aristoteles für die jahre 590—80 lesen, was ist das anders als eine chronik von Athen? Es kommen nun indicien hinzu, die eine gewisse schriftstellerische haltung erkennen lassen. erst unter Solon fand Aristoteles eine schil- derung der verfassung, zum teil auf rückschlüsse aufgebaut, und sie ignorirte die verfassung Drakons, Solon aber war der groſse volksmann. das hat seine bedeutung, einmal negativ: die zeitgenössische chronik gab für ihn noch bitter wenig, was wir wol beherzigen müssen; zum 30) Der polemarch Epilykos, der das haus dieses beamten vor Solon neu baute, mag seinen namen und sein amt angeschrieben haben; deshalb nenne ich ihn nicht mit als beleg für eine beamtenliste des siebenten jahrhunderts.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/292>, abgerufen am 21.11.2024.