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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
möchte es nicht von vorn herein als unmöglich bezeichnen, dass Aristo-
teles für irgend eine Politie oder für ein historisches exempel seiner
vorträge das dickleibige buch des Ephoros eingesehen habe, glaube aber
persönlich vielmehr, dass er es gar nicht gelesen haben wird, und mit
einer gewissen gruppe unserer historiker den forscher in Ephoros zu
sehen, in Aristoteles den ausschreiber, halte ich allerdings nach wie vor
für noch weniger denkbar als das umgekehrte verhältnis. der grund,
dächte ich, müsste einleuchten. hier die Politien, eine summe von ein-
zelheiten, dort die universalgeschichte: was ist das frühere, nicht der
zeit nach, sondern das proteron phusei? hat Aristoteles und der Peri-
patos das gewebe des Ephoros aufgedröselt, oder hat Ephoros die menge
der einzelgeschichten zu seinem werke verwoben? die attische Politie
des Aristoteles liefert nun aber keine eigene forschung, sondern ver-
arbeitet gegebenes material. wir können die andern nur nach dieser
probe beurteilen. da das material vorhanden war, bedurfte Ephoros
der Politien nicht. Aristoteles war kein forscher gewesen, aber den
Ephoros werden wir nun doch nicht dazu machen und ihm die lob-
sprüche zuerkennen, die wir früher dem Aristoteles nur zu bereit-
willig gespendet haben. gerade der universalhistoriker stöbert nicht
nach alten inschriftsteinen in den fussböden der tempel24), sammelt
keine sprüchwörter und macht keine topographischen studien, nicht nur
weil er keine zeit hat, sondern weil seine geistesrichtung ins weite geht.
und Ephoros war noch dazu ein rhetor. aber wozu bedurfte er auch
der eignen forschung? dasselbe material, das der Peripatos verarbeitete,
stand auch ihm zur verfügung. mit der erkenntnis, dass die aristote-
lische Politie der Athener eine compilation aus vorhandenem litterarischem
materiale ist, haben wir auch das material kennen gelernt, aus dem der
Isokrateer sein gebäude errichtet hat. was wir für die Atthis gelernt
haben, ist damit für Kretika Milesiaka Samiaka auch gesagt. die
bedeutung der localen überlieferung und der localhistorie wächst ganz
ungemein, während die der grossen werke sinkt, in denen diese locale
überlieferung verarbeitet worden ist. oder vielmehr dass sie sänke, ist
zu viel gesagt; sie wird nur richtiger geschätzt. denn ohne das sam-
meln und verarbeiten des Peripatos und der Isokrateer würde aus dem
chaos der localliteratur wenig erhalten geblieben sein. Ephoros und

24) Darüber höhnt Polybios gegenüber dem polyhistor Timaios, XII 11, 2 o
tas opisthodomous (opisthographous, oder wie sagte man dafür im altertum? der
begriff scheint nötig) stelas kai tas en tais phliais ton neon proxenias exeurekos
Timaios estin.

I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit.
möchte es nicht von vorn herein als unmöglich bezeichnen, daſs Aristo-
teles für irgend eine Politie oder für ein historisches exempel seiner
vorträge das dickleibige buch des Ephoros eingesehen habe, glaube aber
persönlich vielmehr, daſs er es gar nicht gelesen haben wird, und mit
einer gewissen gruppe unserer historiker den forscher in Ephoros zu
sehen, in Aristoteles den ausschreiber, halte ich allerdings nach wie vor
für noch weniger denkbar als das umgekehrte verhältnis. der grund,
dächte ich, müſste einleuchten. hier die Politien, eine summe von ein-
zelheiten, dort die universalgeschichte: was ist das frühere, nicht der
zeit nach, sondern das πϱότεϱον φύσει? hat Aristoteles und der Peri-
patos das gewebe des Ephoros aufgedröselt, oder hat Ephoros die menge
der einzelgeschichten zu seinem werke verwoben? die attische Politie
des Aristoteles liefert nun aber keine eigene forschung, sondern ver-
arbeitet gegebenes material. wir können die andern nur nach dieser
probe beurteilen. da das material vorhanden war, bedurfte Ephoros
der Politien nicht. Aristoteles war kein forscher gewesen, aber den
Ephoros werden wir nun doch nicht dazu machen und ihm die lob-
sprüche zuerkennen, die wir früher dem Aristoteles nur zu bereit-
willig gespendet haben. gerade der universalhistoriker stöbert nicht
nach alten inschriftsteinen in den fuſsböden der tempel24), sammelt
keine sprüchwörter und macht keine topographischen studien, nicht nur
weil er keine zeit hat, sondern weil seine geistesrichtung ins weite geht.
und Ephoros war noch dazu ein rhetor. aber wozu bedurfte er auch
der eignen forschung? dasselbe material, das der Peripatos verarbeitete,
stand auch ihm zur verfügung. mit der erkenntnis, daſs die aristote-
lische Politie der Athener eine compilation aus vorhandenem litterarischem
materiale ist, haben wir auch das material kennen gelernt, aus dem der
Isokrateer sein gebäude errichtet hat. was wir für die Atthis gelernt
haben, ist damit für Κϱητικὰ Μιλησιακὰ Σαμιακά auch gesagt. die
bedeutung der localen überlieferung und der localhistorie wächst ganz
ungemein, während die der groſsen werke sinkt, in denen diese locale
überlieferung verarbeitet worden ist. oder vielmehr daſs sie sänke, ist
zu viel gesagt; sie wird nur richtiger geschätzt. denn ohne das sam-
meln und verarbeiten des Peripatos und der Isokrateer würde aus dem
chaos der localliteratur wenig erhalten geblieben sein. Ephoros und

24) Darüber höhnt Polybios gegenüber dem polyhistor Timaios, XII 11, 2 ὁ
τὰς ὀπισϑοδόμους (ὀπισϑογϱάφους, oder wie sagte man dafür im altertum? der
begriff scheint nötig) στήλας καὶ τὰς ἐν ταῖς φλιαῖς τῶν νεῶν πϱοξενίας ἐξευϱηκὼς
Τίμαιός ἐστιν.
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[306/0320] I. 9. Die geltung des buches in der späteren zeit. möchte es nicht von vorn herein als unmöglich bezeichnen, daſs Aristo- teles für irgend eine Politie oder für ein historisches exempel seiner vorträge das dickleibige buch des Ephoros eingesehen habe, glaube aber persönlich vielmehr, daſs er es gar nicht gelesen haben wird, und mit einer gewissen gruppe unserer historiker den forscher in Ephoros zu sehen, in Aristoteles den ausschreiber, halte ich allerdings nach wie vor für noch weniger denkbar als das umgekehrte verhältnis. der grund, dächte ich, müſste einleuchten. hier die Politien, eine summe von ein- zelheiten, dort die universalgeschichte: was ist das frühere, nicht der zeit nach, sondern das πϱότεϱον φύσει? hat Aristoteles und der Peri- patos das gewebe des Ephoros aufgedröselt, oder hat Ephoros die menge der einzelgeschichten zu seinem werke verwoben? die attische Politie des Aristoteles liefert nun aber keine eigene forschung, sondern ver- arbeitet gegebenes material. wir können die andern nur nach dieser probe beurteilen. da das material vorhanden war, bedurfte Ephoros der Politien nicht. Aristoteles war kein forscher gewesen, aber den Ephoros werden wir nun doch nicht dazu machen und ihm die lob- sprüche zuerkennen, die wir früher dem Aristoteles nur zu bereit- willig gespendet haben. gerade der universalhistoriker stöbert nicht nach alten inschriftsteinen in den fuſsböden der tempel 24), sammelt keine sprüchwörter und macht keine topographischen studien, nicht nur weil er keine zeit hat, sondern weil seine geistesrichtung ins weite geht. und Ephoros war noch dazu ein rhetor. aber wozu bedurfte er auch der eignen forschung? dasselbe material, das der Peripatos verarbeitete, stand auch ihm zur verfügung. mit der erkenntnis, daſs die aristote- lische Politie der Athener eine compilation aus vorhandenem litterarischem materiale ist, haben wir auch das material kennen gelernt, aus dem der Isokrateer sein gebäude errichtet hat. was wir für die Atthis gelernt haben, ist damit für Κϱητικὰ Μιλησιακὰ Σαμιακά auch gesagt. die bedeutung der localen überlieferung und der localhistorie wächst ganz ungemein, während die der groſsen werke sinkt, in denen diese locale überlieferung verarbeitet worden ist. oder vielmehr daſs sie sänke, ist zu viel gesagt; sie wird nur richtiger geschätzt. denn ohne das sam- meln und verarbeiten des Peripatos und der Isokrateer würde aus dem chaos der localliteratur wenig erhalten geblieben sein. Ephoros und 24) Darüber höhnt Polybios gegenüber dem polyhistor Timaios, XII 11, 2 ὁ τὰς ὀπισϑοδόμους (ὀπισϑογϱάφους, oder wie sagte man dafür im altertum? der begriff scheint nötig) στήλας καὶ τὰς ἐν ταῖς φλιαῖς τῶν νεῶν πϱοξενίας ἐξευϱηκὼς Τίμαιός ἐστιν.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/320>, abgerufen am 24.11.2024.