Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. ten1): dies ist kein 'hypomnema', kein hilfsmittel für das gedächtnis, son-dern stilisirte, meisterhaft stilisirte rede. und es fehlt die ganze termi- nologie der schule, es fehlt das specifisch peripatetische, ja sogar das sokratische. der verfasser will also im grossen publicum durch dieses buch das seiner ansicht nach richtige urteil über die athenische verfas- sung erwecken. er formulirt dieses urteil nirgend; trotzdem kann ein aufmerksamer leser die winke nicht übersehen, die mit kalter sicherheit gelegentlich gegeben werden. auch heute genügt das, um einen schluss auf die politische überzeugung des Aristoteles zu machen. dieser aber schreibt für einen leser, der in der lage ist dutzende ähnlicher bücher neben diesem vor sich zu haben, also sich über so gut wie alle helle- nischen staaten ebenso sicher zu unterrichten. er wird dann wissen, was er von ihnen zu halten hat, und er wird etwas besseres besitzen als tausend einzelheiten aus der verfassungsgeschichte, ein aus der fülle des concreten lebens geschöpftes politisches urteil. wol ihm und seinem vaterlande, wenn er darnach handelt. Auf der höhe seiner irdischen wirksamkeit, nicht als greis, was er Aristoteles als person tritt nirgend hervor; er schreibt mit einer 1) Bergk und Dümmler haben diesen punkt richtiger beurteilt, als es ge-
meiniglich und so auch von mir geschah. I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. ten1): dies ist kein ‘hypomnema’, kein hilfsmittel für das gedächtnis, son-dern stilisirte, meisterhaft stilisirte rede. und es fehlt die ganze termi- nologie der schule, es fehlt das specifisch peripatetische, ja sogar das sokratische. der verfasser will also im groſsen publicum durch dieses buch das seiner ansicht nach richtige urteil über die athenische verfas- sung erwecken. er formulirt dieses urteil nirgend; trotzdem kann ein aufmerksamer leser die winke nicht übersehen, die mit kalter sicherheit gelegentlich gegeben werden. auch heute genügt das, um einen schluſs auf die politische überzeugung des Aristoteles zu machen. dieser aber schreibt für einen leser, der in der lage ist dutzende ähnlicher bücher neben diesem vor sich zu haben, also sich über so gut wie alle helle- nischen staaten ebenso sicher zu unterrichten. er wird dann wissen, was er von ihnen zu halten hat, und er wird etwas besseres besitzen als tausend einzelheiten aus der verfassungsgeschichte, ein aus der fülle des concreten lebens geschöpftes politisches urteil. wol ihm und seinem vaterlande, wenn er darnach handelt. Auf der höhe seiner irdischen wirksamkeit, nicht als greis, was er Aristoteles als person tritt nirgend hervor; er schreibt mit einer 1) Bergk und Dümmler haben diesen punkt richtiger beurteilt, als es ge-
meiniglich und so auch von mir geschah. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0324" n="310"/><fw place="top" type="header">I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.</fw><lb/> ten<note place="foot" n="1)">Bergk und Dümmler haben diesen punkt richtiger beurteilt, als es ge-<lb/> meiniglich und so auch von mir geschah.</note>: dies ist kein ‘hypomnema’, kein hilfsmittel für das gedächtnis, son-<lb/> dern stilisirte, meisterhaft stilisirte rede. und es fehlt die ganze termi-<lb/> nologie der schule, es fehlt das specifisch peripatetische, ja sogar das<lb/> sokratische. der verfasser will also im groſsen publicum durch dieses<lb/> buch das seiner ansicht nach richtige urteil über die athenische verfas-<lb/> sung erwecken. er formulirt dieses urteil nirgend; trotzdem kann ein<lb/> aufmerksamer leser die winke nicht übersehen, die mit kalter sicherheit<lb/> gelegentlich gegeben werden. auch heute genügt das, um einen schluſs<lb/> auf die politische überzeugung des Aristoteles zu machen. dieser aber<lb/> schreibt für einen leser, der in der lage ist dutzende ähnlicher bücher<lb/> neben diesem vor sich zu haben, also sich über so gut wie alle helle-<lb/> nischen staaten ebenso sicher zu unterrichten. er wird dann wissen,<lb/> was er von ihnen zu halten hat, und er wird etwas besseres besitzen<lb/> als tausend einzelheiten aus der verfassungsgeschichte, ein aus der fülle<lb/> des concreten lebens geschöpftes politisches urteil. wol ihm und seinem<lb/> vaterlande, wenn er darnach handelt.</p><lb/> <p>Auf der höhe seiner irdischen wirksamkeit, nicht als greis, was er<lb/> nie geworden ist, wol aber als der hochberühmte schriftsteller und als haupt<lb/> der einfluſsreichsten wissenschaftlichen genossenschaft ist Aristoteles auf-<lb/> getreten als politischer lehrer der nation: das ist das neue, was die<lb/> Politie uns für Aristoteles gelehrt hat. wie eine jede wirklich groſse<lb/> entdeckung hat auch diese unser meinen und vermuten in seiner un-<lb/> zulänglichkeit gezeigt, und statt dessen was wir erwarteten etwas un-<lb/> gleich bedeutenderes offenbart. in jedem solchen falle steht ein sinn<lb/> der in der gewohnheit eingerostet ist ratlos, schmählt die beschämte eitel-<lb/> keit, die immer recht gehabt haben will: die wissenschaft aber tut was<lb/> ihres amtes ist: sie ergibt sich willig dem neuen, um ihr urteil zu<lb/> befreien.</p><lb/> <p>Aristoteles als person tritt nirgend hervor; er schreibt mit einer<lb/> so vornehmen überlegenheit, daſs er das nicht nötig hat. aber der hier<lb/> zu den Hellenen redet ist doch der lehrer des Lykeions, der erzieher<lb/> des königs, der in den fabelländern des ostens auf den bahnen des<lb/> Dionysos wandelt, der freund des statthalters Antipatros. für das publicum<lb/> ist der verfasser des buches mit nichten irrelevant: und er müſste nicht<lb/> der mann gewesen sein, der wirken konnte und wollte, wenn er nicht<lb/> mit der autorität seines namens gerechnet hätte. in anderem sinne noch<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [310/0324]
I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
ten 1): dies ist kein ‘hypomnema’, kein hilfsmittel für das gedächtnis, son-
dern stilisirte, meisterhaft stilisirte rede. und es fehlt die ganze termi-
nologie der schule, es fehlt das specifisch peripatetische, ja sogar das
sokratische. der verfasser will also im groſsen publicum durch dieses
buch das seiner ansicht nach richtige urteil über die athenische verfas-
sung erwecken. er formulirt dieses urteil nirgend; trotzdem kann ein
aufmerksamer leser die winke nicht übersehen, die mit kalter sicherheit
gelegentlich gegeben werden. auch heute genügt das, um einen schluſs
auf die politische überzeugung des Aristoteles zu machen. dieser aber
schreibt für einen leser, der in der lage ist dutzende ähnlicher bücher
neben diesem vor sich zu haben, also sich über so gut wie alle helle-
nischen staaten ebenso sicher zu unterrichten. er wird dann wissen,
was er von ihnen zu halten hat, und er wird etwas besseres besitzen
als tausend einzelheiten aus der verfassungsgeschichte, ein aus der fülle
des concreten lebens geschöpftes politisches urteil. wol ihm und seinem
vaterlande, wenn er darnach handelt.
Auf der höhe seiner irdischen wirksamkeit, nicht als greis, was er
nie geworden ist, wol aber als der hochberühmte schriftsteller und als haupt
der einfluſsreichsten wissenschaftlichen genossenschaft ist Aristoteles auf-
getreten als politischer lehrer der nation: das ist das neue, was die
Politie uns für Aristoteles gelehrt hat. wie eine jede wirklich groſse
entdeckung hat auch diese unser meinen und vermuten in seiner un-
zulänglichkeit gezeigt, und statt dessen was wir erwarteten etwas un-
gleich bedeutenderes offenbart. in jedem solchen falle steht ein sinn
der in der gewohnheit eingerostet ist ratlos, schmählt die beschämte eitel-
keit, die immer recht gehabt haben will: die wissenschaft aber tut was
ihres amtes ist: sie ergibt sich willig dem neuen, um ihr urteil zu
befreien.
Aristoteles als person tritt nirgend hervor; er schreibt mit einer
so vornehmen überlegenheit, daſs er das nicht nötig hat. aber der hier
zu den Hellenen redet ist doch der lehrer des Lykeions, der erzieher
des königs, der in den fabelländern des ostens auf den bahnen des
Dionysos wandelt, der freund des statthalters Antipatros. für das publicum
ist der verfasser des buches mit nichten irrelevant: und er müſste nicht
der mann gewesen sein, der wirken konnte und wollte, wenn er nicht
mit der autorität seines namens gerechnet hätte. in anderem sinne noch
1) Bergk und Dümmler haben diesen punkt richtiger beurteilt, als es ge-
meiniglich und so auch von mir geschah.
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