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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
freilich etwas was Isokrates weder lehrte noch überhaupt begriff, son-
dern instinctiv hassen musste, weil sie einer andern welt angehört, als
die er allein kannte und für die einzige hielt. Platon hatte alle rhetorik
kurzer hand verworfen. wenn er stilistische kunstwerke schuf, die dem
rhetorischen gemächte überlegen waren wie die centifolie der georgine,
so schuf er sie als dichter. wenn es ihm gerade einfiel, konnte er auch
dem rhetor seine künste nachmachen, aber auch das tat er als meister
der mimesis, allein so durfte nur der überlegene schöpferische künstler
handeln. der wissenschaftliche fortschritt war erst dann gesichert, wenn
aus der routine eine methode ward, wenn die Analytik, die Topik, die
Rhetorik so geschrieben wurden, wie es Aristoteles getan hat. gewiss
hat er die platonische dialektik dazu nötig gehabt, und hat sie ihm das
beste geliefert; die sophistikoi elegkhoi zeigen, dass er auch die eristik,
mit der Isokrates so gern die Sokratik zusammenwirft, zu beachten nicht
unter seiner würde gehalten hat: aber es ist eine einseitige und unge-
rechte auffassung, wenn man verkennt, dass Isokrates der nächste und
der bedeutendste vorgänger des Aristoteles gewesen ist. gewiss steht
dieser unendlich höher, aber er steht auf jenes schultern. der leiden-
schaftliche hass des Kephisodoros lehrt, wie tief die rhetorische schule
sich verwundet fühlte; aber auch darin zeigt sich der wahre zusammen-
hang. ohne zweifel hat Aristoteles auch die aporreta Isokratous, die
esoterische lehre, für die man den teuren cursus bezahlte12), einiger-
massen gekannt. an die logik angegliedert ist die rhetorik erst durch das
werk, das Aristoteles auf der höhe des lebens in unsern beiden ersten
büchern schrieb. also hat er in den vorträgen, die er dem Theodektes
zur herausgabe überliess, sich noch viel näher an Isokrates gehalten.
und der gemeinsame freund bildete auch persönlich ein bindeglied zwi-

immer die besten und fast einzigen fingerzeige zu einer mehr als äusserlichen
schätzung der isokrateischen lehre. es ist noch nicht zu spät für eine sammlung
von 'L. Spengels schriften zur griechischen rhetorik': sie würden wol im stande
sein nützliche fortarbeit hervorzurufen.
12) Von dem lehrer, der von den honoraren des unterrichtes neben dem er-
trage seiner schriftstellerei lebte, ist gar nicht zu erwarten, dass er seine weisheit
dem publicum vortrüge. abgesehn von der techne, die für eine publication des
Isokrates niemand halten darf, soll man auch nicht die überlieferung anschuldigen,
wenn das programm seiner athenischen schule, die rede wider die sophisten, nur
aus einer polemischen einleitung besteht. so viel konnte er eben veröffentlichen:
er nimmt stellung zu den concurrenten, zu denen auch Platon nach seiner auffassung
von philosophia gehört, und von dem er Phaidros und Gorgias, wie sich gebührte,
berücksichtigt, und dann verkündet er, was bei ihm schönes zu holen wäre. damit
ist es aus: wer das schöne haben will, komme, lerne, zahle.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
freilich etwas was Isokrates weder lehrte noch überhaupt begriff, son-
dern instinctiv hassen muſste, weil sie einer andern welt angehört, als
die er allein kannte und für die einzige hielt. Platon hatte alle rhetorik
kurzer hand verworfen. wenn er stilistische kunstwerke schuf, die dem
rhetorischen gemächte überlegen waren wie die centifolie der georgine,
so schuf er sie als dichter. wenn es ihm gerade einfiel, konnte er auch
dem rhetor seine künste nachmachen, aber auch das tat er als meister
der μίμησις, allein so durfte nur der überlegene schöpferische künstler
handeln. der wissenschaftliche fortschritt war erst dann gesichert, wenn
aus der routine eine methode ward, wenn die Analytik, die Topik, die
Rhetorik so geschrieben wurden, wie es Aristoteles getan hat. gewiſs
hat er die platonische dialektik dazu nötig gehabt, und hat sie ihm das
beste geliefert; die σοφιστικοὶ ἔλεγχοι zeigen, daſs er auch die eristik,
mit der Isokrates so gern die Sokratik zusammenwirft, zu beachten nicht
unter seiner würde gehalten hat: aber es ist eine einseitige und unge-
rechte auffassung, wenn man verkennt, daſs Isokrates der nächste und
der bedeutendste vorgänger des Aristoteles gewesen ist. gewiſs steht
dieser unendlich höher, aber er steht auf jenes schultern. der leiden-
schaftliche haſs des Kephisodoros lehrt, wie tief die rhetorische schule
sich verwundet fühlte; aber auch darin zeigt sich der wahre zusammen-
hang. ohne zweifel hat Aristoteles auch die ἀπόϱϱητα Ἰσοκϱάτους, die
esoterische lehre, für die man den teuren cursus bezahlte12), einiger-
maſsen gekannt. an die logik angegliedert ist die rhetorik erst durch das
werk, das Aristoteles auf der höhe des lebens in unsern beiden ersten
büchern schrieb. also hat er in den vorträgen, die er dem Theodektes
zur herausgabe überlieſs, sich noch viel näher an Isokrates gehalten.
und der gemeinsame freund bildete auch persönlich ein bindeglied zwi-

immer die besten und fast einzigen fingerzeige zu einer mehr als äuſserlichen
schätzung der isokrateischen lehre. es ist noch nicht zu spät für eine sammlung
von ‘L. Spengels schriften zur griechischen rhetorik’: sie würden wol im stande
sein nützliche fortarbeit hervorzurufen.
12) Von dem lehrer, der von den honoraren des unterrichtes neben dem er-
trage seiner schriftstellerei lebte, ist gar nicht zu erwarten, daſs er seine weisheit
dem publicum vortrüge. abgesehn von der techne, die für eine publication des
Isokrates niemand halten darf, soll man auch nicht die überlieferung anschuldigen,
wenn das programm seiner athenischen schule, die rede wider die sophisten, nur
aus einer polemischen einleitung besteht. so viel konnte er eben veröffentlichen:
er nimmt stellung zu den concurrenten, zu denen auch Platon nach seiner auffassung
von φιλοσοφία gehört, und von dem er Phaidros und Gorgias, wie sich gebührte,
berücksichtigt, und dann verkündet er, was bei ihm schönes zu holen wäre. damit
ist es aus: wer das schöne haben will, komme, lerne, zahle.
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[320/0334] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. freilich etwas was Isokrates weder lehrte noch überhaupt begriff, son- dern instinctiv hassen muſste, weil sie einer andern welt angehört, als die er allein kannte und für die einzige hielt. Platon hatte alle rhetorik kurzer hand verworfen. wenn er stilistische kunstwerke schuf, die dem rhetorischen gemächte überlegen waren wie die centifolie der georgine, so schuf er sie als dichter. wenn es ihm gerade einfiel, konnte er auch dem rhetor seine künste nachmachen, aber auch das tat er als meister der μίμησις, allein so durfte nur der überlegene schöpferische künstler handeln. der wissenschaftliche fortschritt war erst dann gesichert, wenn aus der routine eine methode ward, wenn die Analytik, die Topik, die Rhetorik so geschrieben wurden, wie es Aristoteles getan hat. gewiſs hat er die platonische dialektik dazu nötig gehabt, und hat sie ihm das beste geliefert; die σοφιστικοὶ ἔλεγχοι zeigen, daſs er auch die eristik, mit der Isokrates so gern die Sokratik zusammenwirft, zu beachten nicht unter seiner würde gehalten hat: aber es ist eine einseitige und unge- rechte auffassung, wenn man verkennt, daſs Isokrates der nächste und der bedeutendste vorgänger des Aristoteles gewesen ist. gewiſs steht dieser unendlich höher, aber er steht auf jenes schultern. der leiden- schaftliche haſs des Kephisodoros lehrt, wie tief die rhetorische schule sich verwundet fühlte; aber auch darin zeigt sich der wahre zusammen- hang. ohne zweifel hat Aristoteles auch die ἀπόϱϱητα Ἰσοκϱάτους, die esoterische lehre, für die man den teuren cursus bezahlte 12), einiger- maſsen gekannt. an die logik angegliedert ist die rhetorik erst durch das werk, das Aristoteles auf der höhe des lebens in unsern beiden ersten büchern schrieb. also hat er in den vorträgen, die er dem Theodektes zur herausgabe überlieſs, sich noch viel näher an Isokrates gehalten. und der gemeinsame freund bildete auch persönlich ein bindeglied zwi- 11) 12) Von dem lehrer, der von den honoraren des unterrichtes neben dem er- trage seiner schriftstellerei lebte, ist gar nicht zu erwarten, daſs er seine weisheit dem publicum vortrüge. abgesehn von der techne, die für eine publication des Isokrates niemand halten darf, soll man auch nicht die überlieferung anschuldigen, wenn das programm seiner athenischen schule, die rede wider die sophisten, nur aus einer polemischen einleitung besteht. so viel konnte er eben veröffentlichen: er nimmt stellung zu den concurrenten, zu denen auch Platon nach seiner auffassung von φιλοσοφία gehört, und von dem er Phaidros und Gorgias, wie sich gebührte, berücksichtigt, und dann verkündet er, was bei ihm schönes zu holen wäre. damit ist es aus: wer das schöne haben will, komme, lerne, zahle. 11) immer die besten und fast einzigen fingerzeige zu einer mehr als äuſserlichen schätzung der isokrateischen lehre. es ist noch nicht zu spät für eine sammlung von ‘L. Spengels schriften zur griechischen rhetorik’: sie würden wol im stande sein nützliche fortarbeit hervorzurufen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/334>, abgerufen am 24.11.2024.