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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
anwerben, ja nur als prinz und praetendent dort leben können, ohne
dass der staat Athen davon notiz nahm, von dessen seite duldung schon
eine mächtige unterstützung war. in der tat wäre es für die macht-
stellung des athenischen staates etwas ungeheures gewesen, wenn in
Syrakus eine herrschaft sich festgesetzt hätte, die ihre moralische stütze
in Athen hatte. es war keine wiederholung der expedition des Alkibiades,
aber man konnte doch hoffnungen hegen, die sich zu denen von 416
verhielten wie der seebund von 365 zu dem attischen Reiche. so liessen
denn Kallistratos und Timotheos den Dion und den Platon gewähren.
so hoch die hoffnungen geflogen waren, so tief war der fall. Platon
hat an den glänzenden aber blendenden mann, den er als letzten am
heissesten geliebt hatte, den glauben nicht verloren: aber er ist ver-
düstert und verbittert worden, fast möchte man sagen, er hat lieber den
glauben an die allmacht des guten verlieren wollen.

Freund-
schaft und
liebe.
Aristoteles hatte durch den verlust eines zärtlich geliebten persön-
lichen freundes, des Kypriers Eudemos, der in Syrakus fiel, eine erschütte-
rung seiner seele zu erfahren, die uns besonders wertvoll geworden ist,
weil sie uns wieder einen einblick in das empfindungsleben des jünglings
verstattet. Eudemos war mit todesahnungen in den krieg gezogen, und
Aristoteles hat den wundern geheimnisvoller seelenkraft nicht nur nicht
den glauben versagt, sondern den schmerz zugleich und den trost, den
ihm sein platonischer glaube gewährte, in einem ergreifenden buche nieder-
gelegt, seinem hohen liede von dem göttlichen adel der menschenseele. so
dringt doch ein hauch zu uns von jenem unendlich reichen leben ge-
mütstiefer jünglingsfreundschaft und mannestreue, das in dem garten
um den Erosaltar keusch und still geblüht hat. man muss freilich
hellenisch und sokratisch zu empfinden gelernt haben, wenn man das
würdigen soll. man wird es ja nicht beschönigen, dass es ein miston
ist, wenn wir Aristoteles später aus pietät gegen einen verstorbenen
freund und aus mitleid ein weib nehmen sehen, dem er das zeugnis
ausstellt, 'sie wäre übrigens auch brav und gut'23), und ein weiterer
miston, wenn wir am sterbebette des grossen mannes eine concubine
finden, die er auch für den fall, dass sie heiraten wolle, im testament
bedenkt, die aber mit ihrem und seinem sohne nichts mehr zu tun
haben wird. es ist das die stellung des weibes in der welt des Aristo-

23) Damit ist allos men sophrona kai agathen ousan nicht voll ausge-
schöpft, falls wir die worte des briefes an Antipatros (663 R.), die Aristokles
erhalten hat, im streng philosophischen sinne nehmen. aber das sollen wir auch
schwerlich.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
anwerben, ja nur als prinz und praetendent dort leben können, ohne
daſs der staat Athen davon notiz nahm, von dessen seite duldung schon
eine mächtige unterstützung war. in der tat wäre es für die macht-
stellung des athenischen staates etwas ungeheures gewesen, wenn in
Syrakus eine herrschaft sich festgesetzt hätte, die ihre moralische stütze
in Athen hatte. es war keine wiederholung der expedition des Alkibiades,
aber man konnte doch hoffnungen hegen, die sich zu denen von 416
verhielten wie der seebund von 365 zu dem attischen Reiche. so lieſsen
denn Kallistratos und Timotheos den Dion und den Platon gewähren.
so hoch die hoffnungen geflogen waren, so tief war der fall. Platon
hat an den glänzenden aber blendenden mann, den er als letzten am
heiſsesten geliebt hatte, den glauben nicht verloren: aber er ist ver-
düstert und verbittert worden, fast möchte man sagen, er hat lieber den
glauben an die allmacht des guten verlieren wollen.

Freund-
schaft und
liebe.
Aristoteles hatte durch den verlust eines zärtlich geliebten persön-
lichen freundes, des Kypriers Eudemos, der in Syrakus fiel, eine erschütte-
rung seiner seele zu erfahren, die uns besonders wertvoll geworden ist,
weil sie uns wieder einen einblick in das empfindungsleben des jünglings
verstattet. Eudemos war mit todesahnungen in den krieg gezogen, und
Aristoteles hat den wundern geheimnisvoller seelenkraft nicht nur nicht
den glauben versagt, sondern den schmerz zugleich und den trost, den
ihm sein platonischer glaube gewährte, in einem ergreifenden buche nieder-
gelegt, seinem hohen liede von dem göttlichen adel der menschenseele. so
dringt doch ein hauch zu uns von jenem unendlich reichen leben ge-
mütstiefer jünglingsfreundschaft und mannestreue, das in dem garten
um den Erosaltar keusch und still geblüht hat. man muſs freilich
hellenisch und sokratisch zu empfinden gelernt haben, wenn man das
würdigen soll. man wird es ja nicht beschönigen, daſs es ein miston
ist, wenn wir Aristoteles später aus pietät gegen einen verstorbenen
freund und aus mitleid ein weib nehmen sehen, dem er das zeugnis
ausstellt, ‘sie wäre übrigens auch brav und gut’23), und ein weiterer
miston, wenn wir am sterbebette des groſsen mannes eine concubine
finden, die er auch für den fall, daſs sie heiraten wolle, im testament
bedenkt, die aber mit ihrem und seinem sohne nichts mehr zu tun
haben wird. es ist das die stellung des weibes in der welt des Aristo-

23) Damit ist ἄλλως μὲν σώφϱονα καὶ ἀγαϑὴν οὖσαν nicht voll ausge-
schöpft, falls wir die worte des briefes an Antipatros (663 R.), die Aristokles
erhalten hat, im streng philosophischen sinne nehmen. aber das sollen wir auch
schwerlich.
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[328/0342] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. anwerben, ja nur als prinz und praetendent dort leben können, ohne daſs der staat Athen davon notiz nahm, von dessen seite duldung schon eine mächtige unterstützung war. in der tat wäre es für die macht- stellung des athenischen staates etwas ungeheures gewesen, wenn in Syrakus eine herrschaft sich festgesetzt hätte, die ihre moralische stütze in Athen hatte. es war keine wiederholung der expedition des Alkibiades, aber man konnte doch hoffnungen hegen, die sich zu denen von 416 verhielten wie der seebund von 365 zu dem attischen Reiche. so lieſsen denn Kallistratos und Timotheos den Dion und den Platon gewähren. so hoch die hoffnungen geflogen waren, so tief war der fall. Platon hat an den glänzenden aber blendenden mann, den er als letzten am heiſsesten geliebt hatte, den glauben nicht verloren: aber er ist ver- düstert und verbittert worden, fast möchte man sagen, er hat lieber den glauben an die allmacht des guten verlieren wollen. Aristoteles hatte durch den verlust eines zärtlich geliebten persön- lichen freundes, des Kypriers Eudemos, der in Syrakus fiel, eine erschütte- rung seiner seele zu erfahren, die uns besonders wertvoll geworden ist, weil sie uns wieder einen einblick in das empfindungsleben des jünglings verstattet. Eudemos war mit todesahnungen in den krieg gezogen, und Aristoteles hat den wundern geheimnisvoller seelenkraft nicht nur nicht den glauben versagt, sondern den schmerz zugleich und den trost, den ihm sein platonischer glaube gewährte, in einem ergreifenden buche nieder- gelegt, seinem hohen liede von dem göttlichen adel der menschenseele. so dringt doch ein hauch zu uns von jenem unendlich reichen leben ge- mütstiefer jünglingsfreundschaft und mannestreue, das in dem garten um den Erosaltar keusch und still geblüht hat. man muſs freilich hellenisch und sokratisch zu empfinden gelernt haben, wenn man das würdigen soll. man wird es ja nicht beschönigen, daſs es ein miston ist, wenn wir Aristoteles später aus pietät gegen einen verstorbenen freund und aus mitleid ein weib nehmen sehen, dem er das zeugnis ausstellt, ‘sie wäre übrigens auch brav und gut’ 23), und ein weiterer miston, wenn wir am sterbebette des groſsen mannes eine concubine finden, die er auch für den fall, daſs sie heiraten wolle, im testament bedenkt, die aber mit ihrem und seinem sohne nichts mehr zu tun haben wird. es ist das die stellung des weibes in der welt des Aristo- Freund- schaft und liebe. 23) Damit ist ἄλλως μὲν σώφϱονα καὶ ἀγαϑὴν οὖσαν nicht voll ausge- schöpft, falls wir die worte des briefes an Antipatros (663 R.), die Aristokles erhalten hat, im streng philosophischen sinne nehmen. aber das sollen wir auch schwerlich.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/342>, abgerufen am 23.11.2024.