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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
physik neu zu machen: wer diese negation wagte, zog damit einen
wechsel auf die zukunft, in der er etwas besseres an ihre stelle setzen
würde. er konnte nur entweder der nachfolger Platons werden oder
eine neue schule gründen: so sehen wir es an. die leidenschaften der
gegenwart werden minder klar und ruhig und gerecht geurteilt haben,
und namentlich er selbst fühlte sich menschlich dem greisen lehrer viel
zu tief verbunden, als dass er einen bruch für möglich gehalten hätte.

Der
alte Platon.
Das letzte jahrzehnt Platons muss jedem der ihn liebt ins herz
schneiden. wenn der jüngling seine blütenträume welken sieht, so lernt
er durch leiden, auf dass er ein mann werde. aber wenn der greis
irre wird an dem besten was er selbst sieghaft erstritten hat, was trotz
seinem abfalle bestand haben wird, nur weil er nicht mehr die kraft
hat, einen schlag zu verwinden, der doch nur das irdisch vergängliche
seines lebenswerkes getroffen hat, so beweist das einen herberen leidens-
kelch, als der schierling des Sokrates war. Platon hat es lernen müssen,
dass das reich, das er gestiftet hatte, nicht von dieser welt war. wie
das ende des Dion und des Kallippos war, könnte man ihm nicht ver-
denken, wenn er statt an die idee des guten an die herrschaft des
radikalen bösen im menschen geglaubt hätte. welchen schwall von hohn
und gemeinheit und wolweisheit die welt draussen über die Akademie
ausgegossen haben mag, die sich vermessen hatte politik zu machen,
kann man sich denken: ohne den vergleich weiter gelten zu lassen,
braucht man nur an die beurteilung zu denken, die das immer strebend
sich bemühende geschlecht der staatsmänner von gestern und heute
für die hohe und reine vaterlandsliebe der professoren in der Pauls-
kirche hat. wie schal und flach und unerquicklich ist doch das ganze
treiben dieser welt: so klagt Hamlet, weil er nicht die energie in sich
fühlt, die welt in ihre fugen einzurichten, wie er müsste. Platon hatte
es versucht, und hatte es nicht vermocht. was wunders, dass ihm der
heraklitische spruch in den sinn kam, das weltenregiment ist das eines
spielenden kindes, aion pais esti paizon pesseuon, paidos e basilee.
spiel ist unser erdenleben: lasset uns nur dafür sorgen, dass wir gott
wolgefällig spielen, so sagt er nun mehr als einmal. oder es steigt
ihm auch der gedanke auf, dass neben der idee des guten nicht bloss
die tote und in ihrer trägheit widerstrebende materie stünde, sondern
eine negativ wirkende kraft, eine böse seele der welt: das gespenst des
teufels erscheint dem höchsten propheten der allmacht des guten.26)

26) Gewiss liegt nicht weniger in der annahme der bösen weltseele, und sie
müsste eigentlich das ganze system zerstören. aber es ist unerlaubte ver-

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
physik neu zu machen: wer diese negation wagte, zog damit einen
wechsel auf die zukunft, in der er etwas besseres an ihre stelle setzen
würde. er konnte nur entweder der nachfolger Platons werden oder
eine neue schule gründen: so sehen wir es an. die leidenschaften der
gegenwart werden minder klar und ruhig und gerecht geurteilt haben,
und namentlich er selbst fühlte sich menschlich dem greisen lehrer viel
zu tief verbunden, als daſs er einen bruch für möglich gehalten hätte.

Der
alte Platon.
Das letzte jahrzehnt Platons muſs jedem der ihn liebt ins herz
schneiden. wenn der jüngling seine blütenträume welken sieht, so lernt
er durch leiden, auf daſs er ein mann werde. aber wenn der greis
irre wird an dem besten was er selbst sieghaft erstritten hat, was trotz
seinem abfalle bestand haben wird, nur weil er nicht mehr die kraft
hat, einen schlag zu verwinden, der doch nur das irdisch vergängliche
seines lebenswerkes getroffen hat, so beweist das einen herberen leidens-
kelch, als der schierling des Sokrates war. Platon hat es lernen müssen,
daſs das reich, das er gestiftet hatte, nicht von dieser welt war. wie
das ende des Dion und des Kallippos war, könnte man ihm nicht ver-
denken, wenn er statt an die idee des guten an die herrschaft des
radikalen bösen im menschen geglaubt hätte. welchen schwall von hohn
und gemeinheit und wolweisheit die welt drauſsen über die Akademie
ausgegossen haben mag, die sich vermessen hatte politik zu machen,
kann man sich denken: ohne den vergleich weiter gelten zu lassen,
braucht man nur an die beurteilung zu denken, die das immer strebend
sich bemühende geschlecht der staatsmänner von gestern und heute
für die hohe und reine vaterlandsliebe der professoren in der Pauls-
kirche hat. wie schal und flach und unerquicklich ist doch das ganze
treiben dieser welt: so klagt Hamlet, weil er nicht die energie in sich
fühlt, die welt in ihre fugen einzurichten, wie er müſste. Platon hatte
es versucht, und hatte es nicht vermocht. was wunders, daſs ihm der
heraklitische spruch in den sinn kam, das weltenregiment ist das eines
spielenden kindes, αἰὼν παῖς ἐστι παίζων πεσσεύων, παιδὸς ἡ βασιλῄη.
spiel ist unser erdenleben: lasset uns nur dafür sorgen, daſs wir gott
wolgefällig spielen, so sagt er nun mehr als einmal. oder es steigt
ihm auch der gedanke auf, daſs neben der idee des guten nicht bloſs
die tote und in ihrer trägheit widerstrebende materie stünde, sondern
eine negativ wirkende kraft, eine böse seele der welt: das gespenst des
teufels erscheint dem höchsten propheten der allmacht des guten.26)

26) Gewiſs liegt nicht weniger in der annahme der bösen weltseele, und sie
müſste eigentlich das ganze system zerstören. aber es ist unerlaubte ver-
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[330/0344] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. physik neu zu machen: wer diese negation wagte, zog damit einen wechsel auf die zukunft, in der er etwas besseres an ihre stelle setzen würde. er konnte nur entweder der nachfolger Platons werden oder eine neue schule gründen: so sehen wir es an. die leidenschaften der gegenwart werden minder klar und ruhig und gerecht geurteilt haben, und namentlich er selbst fühlte sich menschlich dem greisen lehrer viel zu tief verbunden, als daſs er einen bruch für möglich gehalten hätte. Das letzte jahrzehnt Platons muſs jedem der ihn liebt ins herz schneiden. wenn der jüngling seine blütenträume welken sieht, so lernt er durch leiden, auf daſs er ein mann werde. aber wenn der greis irre wird an dem besten was er selbst sieghaft erstritten hat, was trotz seinem abfalle bestand haben wird, nur weil er nicht mehr die kraft hat, einen schlag zu verwinden, der doch nur das irdisch vergängliche seines lebenswerkes getroffen hat, so beweist das einen herberen leidens- kelch, als der schierling des Sokrates war. Platon hat es lernen müssen, daſs das reich, das er gestiftet hatte, nicht von dieser welt war. wie das ende des Dion und des Kallippos war, könnte man ihm nicht ver- denken, wenn er statt an die idee des guten an die herrschaft des radikalen bösen im menschen geglaubt hätte. welchen schwall von hohn und gemeinheit und wolweisheit die welt drauſsen über die Akademie ausgegossen haben mag, die sich vermessen hatte politik zu machen, kann man sich denken: ohne den vergleich weiter gelten zu lassen, braucht man nur an die beurteilung zu denken, die das immer strebend sich bemühende geschlecht der staatsmänner von gestern und heute für die hohe und reine vaterlandsliebe der professoren in der Pauls- kirche hat. wie schal und flach und unerquicklich ist doch das ganze treiben dieser welt: so klagt Hamlet, weil er nicht die energie in sich fühlt, die welt in ihre fugen einzurichten, wie er müſste. Platon hatte es versucht, und hatte es nicht vermocht. was wunders, daſs ihm der heraklitische spruch in den sinn kam, das weltenregiment ist das eines spielenden kindes, αἰὼν παῖς ἐστι παίζων πεσσεύων, παιδὸς ἡ βασιλῄη. spiel ist unser erdenleben: lasset uns nur dafür sorgen, daſs wir gott wolgefällig spielen, so sagt er nun mehr als einmal. oder es steigt ihm auch der gedanke auf, daſs neben der idee des guten nicht bloſs die tote und in ihrer trägheit widerstrebende materie stünde, sondern eine negativ wirkende kraft, eine böse seele der welt: das gespenst des teufels erscheint dem höchsten propheten der allmacht des guten. 26) Der alte Platon. 26) Gewiſs liegt nicht weniger in der annahme der bösen weltseele, und sie müſste eigentlich das ganze system zerstören. aber es ist unerlaubte ver-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/344>, abgerufen am 23.11.2024.