Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.
I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. es war eben niemand da, der mit mund und feder zu seinen Athenernund seinen Hellenen zu reden vermocht hätte wie Platon oder auch Herakleides und Aristoteles als junge Akademiker.41) und wenn in der diadochenzeit diese abkehr von der welt vielleicht berechtigt scheinen konnte, (wo denn ein par schritte weiter der garten des Epikuros dem weltflüchtigen einen eben so sichern hafen bot): in der demosthenischen zeit war weder Athen noch Hellas so klein und so schwach, dass eine philosophie die würdige fortsetzerin der Platonischen Akademie hätte scheinen dürfen, die Sokrates, den mann des lebens und des tages, den bürger und den ratsherrn, völlig verläugnete. das war nur die hälfte der Sokratik: die andere gehörte dann dem hunde Diogenes, der die wissenschaft preis gab, auch den staat preis gab, aber dafür unter das volk des marktes sich mischte, als arzt der kranken seelen und gewissen, als prediger der tugend auf der gasse. Zwischen beide, über beide trat als ächter erbe Platons Aristoteles 41) In die zeit nach Platon und vor Arkesilaos müssen ziemlich alle die dialoge
fallen, die wir jetzt mit unrecht unter Platons werken lesen. nur in dem anhange unserer ausgabe stehn auch spätere erzeugnisse. es ist natürlich, dass nur unbe- deutende werke einen verfassernamen entweder nie gehabt oder verloren haben. es ist aber allerdings von bedeutung, dass vor Krantor kein werk mehr aus der Akademie hervorgegangen ist, das einen litterarischen erfolg gehabt hätte. I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. es war eben niemand da, der mit mund und feder zu seinen Athenernund seinen Hellenen zu reden vermocht hätte wie Platon oder auch Herakleides und Aristoteles als junge Akademiker.41) und wenn in der diadochenzeit diese abkehr von der welt vielleicht berechtigt scheinen konnte, (wo denn ein par schritte weiter der garten des Epikuros dem weltflüchtigen einen eben so sichern hafen bot): in der demosthenischen zeit war weder Athen noch Hellas so klein und so schwach, daſs eine philosophie die würdige fortsetzerin der Platonischen Akademie hätte scheinen dürfen, die Sokrates, den mann des lebens und des tages, den bürger und den ratsherrn, völlig verläugnete. das war nur die hälfte der Sokratik: die andere gehörte dann dem hunde Diogenes, der die wissenschaft preis gab, auch den staat preis gab, aber dafür unter das volk des marktes sich mischte, als arzt der kranken seelen und gewissen, als prediger der tugend auf der gasse. Zwischen beide, über beide trat als ächter erbe Platons Aristoteles 41) In die zeit nach Platon und vor Arkesilaos müssen ziemlich alle die dialoge
fallen, die wir jetzt mit unrecht unter Platons werken lesen. nur in dem anhange unserer ausgabe stehn auch spätere erzeugnisse. es ist natürlich, daſs nur unbe- deutende werke einen verfassernamen entweder nie gehabt oder verloren haben. es ist aber allerdings von bedeutung, daſs vor Krantor kein werk mehr aus der Akademie hervorgegangen ist, das einen litterarischen erfolg gehabt hätte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0356" n="342"/><fw place="top" type="header">I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.</fw><lb/> es war eben niemand da, der mit mund und feder zu seinen Athenern<lb/> und seinen Hellenen zu reden vermocht hätte wie Platon oder auch<lb/> Herakleides und Aristoteles als junge Akademiker.<note place="foot" n="41)">In die zeit nach Platon und vor Arkesilaos müssen ziemlich alle die dialoge<lb/> fallen, die wir jetzt mit unrecht unter Platons werken lesen. nur in dem anhange<lb/> unserer ausgabe stehn auch spätere erzeugnisse. es ist natürlich, daſs nur unbe-<lb/> deutende werke einen verfassernamen entweder nie gehabt oder verloren haben.<lb/> es ist aber allerdings von bedeutung, daſs vor Krantor kein werk mehr aus der<lb/> Akademie hervorgegangen ist, das einen litterarischen erfolg gehabt hätte.</note> und wenn in<lb/> der diadochenzeit diese abkehr von der welt vielleicht berechtigt scheinen<lb/> konnte, (wo denn ein par schritte weiter der garten des Epikuros dem<lb/> weltflüchtigen einen eben so sichern hafen bot): in der demosthenischen<lb/> zeit war weder Athen noch Hellas so klein und so schwach, daſs eine<lb/> philosophie die würdige fortsetzerin der Platonischen Akademie hätte<lb/> scheinen dürfen, die Sokrates, den mann des lebens und des tages, den<lb/> bürger und den ratsherrn, völlig verläugnete. das war nur die hälfte<lb/> der Sokratik: die andere gehörte dann dem hunde Diogenes, der die<lb/> wissenschaft preis gab, auch den staat preis gab, aber dafür unter das<lb/> volk des marktes sich mischte, als arzt der kranken seelen und gewissen,<lb/> als prediger der tugend auf der gasse.</p><lb/> <p>Zwischen beide, über beide trat als ächter erbe Platons Aristoteles<lb/> und seine schule, in der Theophrastos und Demetrios, Aristoxenos und<lb/> Dikaiarchos, Duris und Menandros gebildet sind. er hat freilich für die<lb/> ewigkeit vornehmlich durch die streng wissenschaftliche specifisch philo-<lb/> sophische forschung gearbeitet, die ‘grundlegende wissenschaft’, wie er<lb/> es nannte, metaphysik, wie wir es in übeler umkehrung des verhält-<lb/> nisses nennen und betreiben, und die daran sich schlieſsende physik<lb/> und logik: aber für die absichten und die erfolge des Aristoteles in<lb/> seiner zeit und unter seinem volke ist dem mindestens gleichwertig, was<lb/> er politik nennt, der sich ethik und rhetorik unterordnen. er erzieht<lb/> eben die menschen für das leben, und das leben im staate gehört für<lb/> ihn zum menschen seiner natur nach. auch das individuum, das sich<lb/> den wonnen des anschauens, dem ϑεωϱητικὸς βίος ergibt, braucht als<lb/> hintergrund den staat, und ist kein ganzer mensch, wenn es sich gegen<lb/> diesen indifferent verhält. von der mannestugend ist die bürgertugend<lb/> ein teil. zu den menschenrechten gehört mit der freiheit auch die teil-<lb/> nahme an dem staatlichen leben: ethik und politik gehören zusammen.<lb/> der lehrer, der seinen schülern den weg zur ἠϑικὴ ἀϱετὴ weist, muſs<lb/> ihn auch zur πολιτικὴ ἀϱετὴ weisen. die ethik kommt vom ἦϑος<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [342/0356]
I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
es war eben niemand da, der mit mund und feder zu seinen Athenern
und seinen Hellenen zu reden vermocht hätte wie Platon oder auch
Herakleides und Aristoteles als junge Akademiker. 41) und wenn in
der diadochenzeit diese abkehr von der welt vielleicht berechtigt scheinen
konnte, (wo denn ein par schritte weiter der garten des Epikuros dem
weltflüchtigen einen eben so sichern hafen bot): in der demosthenischen
zeit war weder Athen noch Hellas so klein und so schwach, daſs eine
philosophie die würdige fortsetzerin der Platonischen Akademie hätte
scheinen dürfen, die Sokrates, den mann des lebens und des tages, den
bürger und den ratsherrn, völlig verläugnete. das war nur die hälfte
der Sokratik: die andere gehörte dann dem hunde Diogenes, der die
wissenschaft preis gab, auch den staat preis gab, aber dafür unter das
volk des marktes sich mischte, als arzt der kranken seelen und gewissen,
als prediger der tugend auf der gasse.
Zwischen beide, über beide trat als ächter erbe Platons Aristoteles
und seine schule, in der Theophrastos und Demetrios, Aristoxenos und
Dikaiarchos, Duris und Menandros gebildet sind. er hat freilich für die
ewigkeit vornehmlich durch die streng wissenschaftliche specifisch philo-
sophische forschung gearbeitet, die ‘grundlegende wissenschaft’, wie er
es nannte, metaphysik, wie wir es in übeler umkehrung des verhält-
nisses nennen und betreiben, und die daran sich schlieſsende physik
und logik: aber für die absichten und die erfolge des Aristoteles in
seiner zeit und unter seinem volke ist dem mindestens gleichwertig, was
er politik nennt, der sich ethik und rhetorik unterordnen. er erzieht
eben die menschen für das leben, und das leben im staate gehört für
ihn zum menschen seiner natur nach. auch das individuum, das sich
den wonnen des anschauens, dem ϑεωϱητικὸς βίος ergibt, braucht als
hintergrund den staat, und ist kein ganzer mensch, wenn es sich gegen
diesen indifferent verhält. von der mannestugend ist die bürgertugend
ein teil. zu den menschenrechten gehört mit der freiheit auch die teil-
nahme an dem staatlichen leben: ethik und politik gehören zusammen.
der lehrer, der seinen schülern den weg zur ἠϑικὴ ἀϱετὴ weist, muſs
ihn auch zur πολιτικὴ ἀϱετὴ weisen. die ethik kommt vom ἦϑος
41) In die zeit nach Platon und vor Arkesilaos müssen ziemlich alle die dialoge
fallen, die wir jetzt mit unrecht unter Platons werken lesen. nur in dem anhange
unserer ausgabe stehn auch spätere erzeugnisse. es ist natürlich, daſs nur unbe-
deutende werke einen verfassernamen entweder nie gehabt oder verloren haben.
es ist aber allerdings von bedeutung, daſs vor Krantor kein werk mehr aus der
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| Zitationshilfe: | Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/356>, abgerufen am 24.11.2024. |
