Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schatten der welt seiner jugend nicht herr werden konnte, der sah in
Theben den feind und trieb die reactionäre politik, die in der hilss-
sendung nach Mantineia ihren deutlichsten ausdruck gefunden hat. das
zwang Theben zu dem versuche einer flottengründung, zum anschlusse
an Persien und der bedrohung des attischen bundes. die boeotische
partei in Athen empfieng in wahrheit ihren impuls von dem über-
legenen genie des Epaminondas und blieb fast immer in der oppo-
sition. Theben selbst aber kam auch zu keiner festen stellung gegen-
über Athen, mit recht, da es diese macht zunächst nur möglichst ausser
action halten musste. der tag von Mantineia zeigte, dass in den Boeotern
die eigene kraft nicht wohnte, die dominirende stellung, die sie einem
grossen manne verdankten, zu behaupten. die internationalen verhältnisse
der hellenischen staaten versumpften. der hoffnungsvolle anfang des
attischen bundes war unterdessen so wenig zielbewusst fortgesetzt worden,
Athen hatte so wenig verstanden, entweder die bundespolitik von 378 oder
die reichspolitik des fünften jahrhunderts, die sich einander ausschlossen,
rein zu verfolgen, hatte die pflicht, die hellenischen städte des ostens vor
den barbaren nach aussen, vor den tyrannen nach innen zu schützen,
so arg versäumt, dass die schmachvolle katastrophe des bundesgenossen-
krieges eben da eintrat, als Athen vom festlande her freie hand hatte.
was nach dem frieden von 355 blieb, war kein wirklicher bund mehr,
sondern eine anzahl abhängiger, zum teil wirklich so verwalteter inseln
und etliche allerdings wichtige kolonien, die Athen die verpflichtung
auferlegten, eine flotte zur sicherung des meeres zu halten, und daneben
an allen ecken die gefahr schwerer kriegerischer verwickelungen mit
sich brachten. dabei stand der staat vor dem bankerott, die namhaften
feldherren und demagogen schieden fast alle, zum teil durch schwere
processe, aus dem politischen leben: man war wieder einmal so weit,
dass man genau wusste, so gienge es nicht weiter, anders müsste es
werden, aber wie es werden sollte, wohin der staat seinen curs nehmen
sollte, das wusste im grunde niemand.

Isokrates, der doch der beredte herold der politik des neuen bundes
im Panegyrikos gewesen war, gab sich dazu her, die neue richtung in
der Friedensrede (eigentlich dem summakhikos, wie ihn auch Aristoteles
nennt) und dem Areopagitikos zu verteidigen, mit andern worten zu
lästern was er 25 jahre früher gepriesen hatte. sein alter dorfgenosse
Xenophon, der mehr als den alten hass gegen Theben innerlich mit
ihm gemein hatte, traute sich zu, praktische volkswirtschaftliche vor-
schläge machen zu können. die staatsmänner, die ans ruder kamen,

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
schatten der welt seiner jugend nicht herr werden konnte, der sah in
Theben den feind und trieb die reactionäre politik, die in der hilſs-
sendung nach Mantineia ihren deutlichsten ausdruck gefunden hat. das
zwang Theben zu dem versuche einer flottengründung, zum anschlusse
an Persien und der bedrohung des attischen bundes. die boeotische
partei in Athen empfieng in wahrheit ihren impuls von dem über-
legenen genie des Epaminondas und blieb fast immer in der oppo-
sition. Theben selbst aber kam auch zu keiner festen stellung gegen-
über Athen, mit recht, da es diese macht zunächst nur möglichst auſser
action halten muſste. der tag von Mantineia zeigte, daſs in den Boeotern
die eigene kraft nicht wohnte, die dominirende stellung, die sie einem
groſsen manne verdankten, zu behaupten. die internationalen verhältnisse
der hellenischen staaten versumpften. der hoffnungsvolle anfang des
attischen bundes war unterdessen so wenig zielbewuſst fortgesetzt worden,
Athen hatte so wenig verstanden, entweder die bundespolitik von 378 oder
die reichspolitik des fünften jahrhunderts, die sich einander ausschlossen,
rein zu verfolgen, hatte die pflicht, die hellenischen städte des ostens vor
den barbaren nach auſsen, vor den tyrannen nach innen zu schützen,
so arg versäumt, daſs die schmachvolle katastrophe des bundesgenossen-
krieges eben da eintrat, als Athen vom festlande her freie hand hatte.
was nach dem frieden von 355 blieb, war kein wirklicher bund mehr,
sondern eine anzahl abhängiger, zum teil wirklich so verwalteter inseln
und etliche allerdings wichtige kolonien, die Athen die verpflichtung
auferlegten, eine flotte zur sicherung des meeres zu halten, und daneben
an allen ecken die gefahr schwerer kriegerischer verwickelungen mit
sich brachten. dabei stand der staat vor dem bankerott, die namhaften
feldherren und demagogen schieden fast alle, zum teil durch schwere
processe, aus dem politischen leben: man war wieder einmal so weit,
daſs man genau wuſste, so gienge es nicht weiter, anders müſste es
werden, aber wie es werden sollte, wohin der staat seinen curs nehmen
sollte, das wuſste im grunde niemand.

Isokrates, der doch der beredte herold der politik des neuen bundes
im Panegyrikos gewesen war, gab sich dazu her, die neue richtung in
der Friedensrede (eigentlich dem συμμαχικός, wie ihn auch Aristoteles
nennt) und dem Areopagitikos zu verteidigen, mit andern worten zu
lästern was er 25 jahre früher gepriesen hatte. sein alter dorfgenosse
Xenophon, der mehr als den alten haſs gegen Theben innerlich mit
ihm gemein hatte, traute sich zu, praktische volkswirtschaftliche vor-
schläge machen zu können. die staatsmänner, die ans ruder kamen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0358" n="344"/><fw place="top" type="header">I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.</fw><lb/>
schatten der welt seiner jugend nicht herr werden konnte, der sah in<lb/>
Theben den feind und trieb die reactionäre politik, die in der hil&#x017F;s-<lb/>
sendung nach Mantineia ihren deutlichsten ausdruck gefunden hat. das<lb/>
zwang Theben zu dem versuche einer flottengründung, zum anschlusse<lb/>
an Persien und der bedrohung des attischen bundes. die boeotische<lb/>
partei in Athen empfieng in wahrheit ihren impuls von dem über-<lb/>
legenen genie des Epaminondas und blieb fast immer in der oppo-<lb/>
sition. Theben selbst aber kam auch zu keiner festen stellung gegen-<lb/>
über Athen, mit recht, da es diese macht zunächst nur möglichst au&#x017F;ser<lb/>
action halten mu&#x017F;ste. der tag von Mantineia zeigte, da&#x017F;s in den Boeotern<lb/>
die eigene kraft nicht wohnte, die dominirende stellung, die sie einem<lb/>
gro&#x017F;sen manne verdankten, zu behaupten. die internationalen verhältnisse<lb/>
der hellenischen staaten versumpften. der hoffnungsvolle anfang des<lb/>
attischen bundes war unterdessen so wenig zielbewu&#x017F;st fortgesetzt worden,<lb/>
Athen hatte so wenig verstanden, entweder die bundespolitik von 378 oder<lb/>
die reichspolitik des fünften jahrhunderts, die sich einander ausschlossen,<lb/>
rein zu verfolgen, hatte die pflicht, die hellenischen städte des ostens vor<lb/>
den barbaren nach au&#x017F;sen, vor den tyrannen nach innen zu schützen,<lb/>
so arg versäumt, da&#x017F;s die schmachvolle katastrophe des bundesgenossen-<lb/>
krieges eben da eintrat, als Athen vom festlande her freie hand hatte.<lb/>
was nach dem frieden von 355 blieb, war kein wirklicher bund mehr,<lb/>
sondern eine anzahl abhängiger, zum teil wirklich so verwalteter inseln<lb/>
und etliche allerdings wichtige kolonien, die Athen die verpflichtung<lb/>
auferlegten, eine flotte zur sicherung des meeres zu halten, und daneben<lb/>
an allen ecken die gefahr schwerer kriegerischer verwickelungen mit<lb/>
sich brachten. dabei stand der staat vor dem bankerott, die namhaften<lb/>
feldherren und demagogen schieden fast alle, zum teil durch schwere<lb/>
processe, aus dem politischen leben: man war wieder einmal so weit,<lb/>
da&#x017F;s man genau wu&#x017F;ste, so gienge es nicht weiter, anders mü&#x017F;ste es<lb/>
werden, aber wie es werden sollte, wohin der staat seinen curs nehmen<lb/>
sollte, das wu&#x017F;ste im grunde niemand.</p><lb/>
          <p>Isokrates, der doch der beredte herold der politik des neuen bundes<lb/>
im Panegyrikos gewesen war, gab sich dazu her, die neue richtung in<lb/>
der Friedensrede (eigentlich dem &#x03C3;&#x03C5;&#x03BC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C7;&#x03B9;&#x03BA;&#x03CC;&#x03C2;, wie ihn auch Aristoteles<lb/>
nennt) und dem Areopagitikos zu verteidigen, mit andern worten zu<lb/>
lästern was er 25 jahre früher gepriesen hatte. sein alter dorfgenosse<lb/>
Xenophon, der mehr als den alten ha&#x017F;s gegen Theben innerlich mit<lb/>
ihm gemein hatte, traute sich zu, praktische volkswirtschaftliche vor-<lb/>
schläge machen zu können. die staatsmänner, die ans ruder kamen,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[344/0358] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. schatten der welt seiner jugend nicht herr werden konnte, der sah in Theben den feind und trieb die reactionäre politik, die in der hilſs- sendung nach Mantineia ihren deutlichsten ausdruck gefunden hat. das zwang Theben zu dem versuche einer flottengründung, zum anschlusse an Persien und der bedrohung des attischen bundes. die boeotische partei in Athen empfieng in wahrheit ihren impuls von dem über- legenen genie des Epaminondas und blieb fast immer in der oppo- sition. Theben selbst aber kam auch zu keiner festen stellung gegen- über Athen, mit recht, da es diese macht zunächst nur möglichst auſser action halten muſste. der tag von Mantineia zeigte, daſs in den Boeotern die eigene kraft nicht wohnte, die dominirende stellung, die sie einem groſsen manne verdankten, zu behaupten. die internationalen verhältnisse der hellenischen staaten versumpften. der hoffnungsvolle anfang des attischen bundes war unterdessen so wenig zielbewuſst fortgesetzt worden, Athen hatte so wenig verstanden, entweder die bundespolitik von 378 oder die reichspolitik des fünften jahrhunderts, die sich einander ausschlossen, rein zu verfolgen, hatte die pflicht, die hellenischen städte des ostens vor den barbaren nach auſsen, vor den tyrannen nach innen zu schützen, so arg versäumt, daſs die schmachvolle katastrophe des bundesgenossen- krieges eben da eintrat, als Athen vom festlande her freie hand hatte. was nach dem frieden von 355 blieb, war kein wirklicher bund mehr, sondern eine anzahl abhängiger, zum teil wirklich so verwalteter inseln und etliche allerdings wichtige kolonien, die Athen die verpflichtung auferlegten, eine flotte zur sicherung des meeres zu halten, und daneben an allen ecken die gefahr schwerer kriegerischer verwickelungen mit sich brachten. dabei stand der staat vor dem bankerott, die namhaften feldherren und demagogen schieden fast alle, zum teil durch schwere processe, aus dem politischen leben: man war wieder einmal so weit, daſs man genau wuſste, so gienge es nicht weiter, anders müſste es werden, aber wie es werden sollte, wohin der staat seinen curs nehmen sollte, das wuſste im grunde niemand. Isokrates, der doch der beredte herold der politik des neuen bundes im Panegyrikos gewesen war, gab sich dazu her, die neue richtung in der Friedensrede (eigentlich dem συμμαχικός, wie ihn auch Aristoteles nennt) und dem Areopagitikos zu verteidigen, mit andern worten zu lästern was er 25 jahre früher gepriesen hatte. sein alter dorfgenosse Xenophon, der mehr als den alten haſs gegen Theben innerlich mit ihm gemein hatte, traute sich zu, praktische volkswirtschaftliche vor- schläge machen zu können. die staatsmänner, die ans ruder kamen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/358
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/358>, abgerufen am 24.11.2024.