Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.Der beste staat. was wir hier lesen, ist der platonische staat, der in Platons Gesetzenschon einmal auf das unter den gegebenen verhältnissen mögliche herab- gestimmt war, und hier noch einmal einer solchen procedur unterzogen wird. wir sehen die grösse und die bevölkerung, oder vielmehr die zahl der bürger fixirt; es kommt ein kümmerlicher kleinstaat heraus. wir sehen die familie durch die regulirung der ehe und der kinder- zeugung reglementirt, nur weit abstossender als bei Platon, weil jener mit einem menschengeschlechte rechnen darf, das über das fleischliche völlig herr geworden ist. wir sehen das eigentum durch einen halben communismus beseitigt und daneben weiter bestehend, und sehen die consequenz rücksichtslos gezogen, dass um der auserwählten willen, die sich der übung der tugend und der glückseligkeit in musse ausschliess- lich hingeben, eine unbestimmte masse von sclaven und rechtlosen freien in einem unwürdigen zustande beharren und arbeiten müssen; selbst der ackerbau ist kein bürgerlicher beruf mehr. 52) wie diese untergeordnete bevölkerung sowol im zustande des gehorsams wie in dem der unwür- digkeit gehalten werden soll, wird dagegen mit nichten klar. die vor- bedingungen der lage und des klimas werden nach Hippokrates und Platon des näheren erörtert und der mittelweg gesucht, der zwar die verbindung mit dem meere gestatte, aber die schädlichen folgen des handels und der seefahrt ausschliesse. hier gibt er geradezu an, was noch ein par mal durchleuchtet, dass er selbst für dieses erzeugnis seiner freien phantasie eine bestimmte anlehnung an das existirende gesucht hat, an das pontische Herakleia. 53) schliesslich verliert sich der gesetz- 52) Überhaupt hat er die bedeutung des ackerbaus unterschätzt. er steht völlig in dem banne der damaligen demokratie und sieht mit der überlegenheit des städters, des astutrips, auf den bauer hinunter, ganz wie der moderne doctrinäre liberalismus. ihm gefällt ja an der bauerndemokratie, dass sie conservativ ist, aber er betrachtet sie doch als eine unvollkommene culturstufe. er lobt die tyrannen, die für das landvolk sorgen, aber dadurch soll es eben dem staatlichen leben fern gehalten werden. das aristophanische Athen und vollends Rom zeigen hierin eine ungleich gesundere politische einsicht. Aristoteles hat aber auch persönlich am landleben keinen reiz gefunden, wie nicht nur Xenophon, sondern auch Platon. das liegt tief in seiner natur. er hat kein poetisches naturgefühl wie Platon noch ein kindlich naives wie Xenophon. er glaubt zwar an die sterngötter, aber an der pracht des sternes freut er sich nicht, sondern er freut sich seines ewig gleichen wandelns. er fragt beim stern, wann geht er auf, beim baum, wie wächst er und beim fische, wann laicht er. sein herz glüht für wissenschaft und tugend; aber diese wissenschaft und diese tugend sind kalt. er fragt ja auch beim gedichte nicht, was steht darin, welche seele weht uns daraus an, sondern wie wirkt das auf mich und wie wird das gemacht. 53) E 6 lobt er nicht nur, dass die Herakleoten aus der menge ihrer unter-
Der beste staat. was wir hier lesen, ist der platonische staat, der in Platons Gesetzenschon einmal auf das unter den gegebenen verhältnissen mögliche herab- gestimmt war, und hier noch einmal einer solchen procedur unterzogen wird. wir sehen die gröſse und die bevölkerung, oder vielmehr die zahl der bürger fixirt; es kommt ein kümmerlicher kleinstaat heraus. wir sehen die familie durch die regulirung der ehe und der kinder- zeugung reglementirt, nur weit abstoſsender als bei Platon, weil jener mit einem menschengeschlechte rechnen darf, das über das fleischliche völlig herr geworden ist. wir sehen das eigentum durch einen halben communismus beseitigt und daneben weiter bestehend, und sehen die consequenz rücksichtslos gezogen, daſs um der auserwählten willen, die sich der übung der tugend und der glückseligkeit in musse ausschlieſs- lich hingeben, eine unbestimmte masse von sclaven und rechtlosen freien in einem unwürdigen zustande beharren und arbeiten müssen; selbst der ackerbau ist kein bürgerlicher beruf mehr. 52) wie diese untergeordnete bevölkerung sowol im zustande des gehorsams wie in dem der unwür- digkeit gehalten werden soll, wird dagegen mit nichten klar. die vor- bedingungen der lage und des klimas werden nach Hippokrates und Platon des näheren erörtert und der mittelweg gesucht, der zwar die verbindung mit dem meere gestatte, aber die schädlichen folgen des handels und der seefahrt ausschlieſse. hier gibt er geradezu an, was noch ein par mal durchleuchtet, daſs er selbst für dieses erzeugnis seiner freien phantasie eine bestimmte anlehnung an das existirende gesucht hat, an das pontische Herakleia. 53) schlieſslich verliert sich der gesetz- 52) Überhaupt hat er die bedeutung des ackerbaus unterschätzt. er steht völlig in dem banne der damaligen demokratie und sieht mit der überlegenheit des städters, des ἀστύτϱιψ, auf den bauer hinunter, ganz wie der moderne doctrinäre liberalismus. ihm gefällt ja an der bauerndemokratie, daſs sie conservativ ist, aber er betrachtet sie doch als eine unvollkommene culturstufe. er lobt die tyrannen, die für das landvolk sorgen, aber dadurch soll es eben dem staatlichen leben fern gehalten werden. das aristophanische Athen und vollends Rom zeigen hierin eine ungleich gesundere politische einsicht. Aristoteles hat aber auch persönlich am landleben keinen reiz gefunden, wie nicht nur Xenophon, sondern auch Platon. das liegt tief in seiner natur. er hat kein poetisches naturgefühl wie Platon noch ein kindlich naives wie Xenophon. er glaubt zwar an die sterngötter, aber an der pracht des sternes freut er sich nicht, sondern er freut sich seines ewig gleichen wandelns. er fragt beim stern, wann geht er auf, beim baum, wie wächst er und beim fische, wann laicht er. sein herz glüht für wissenschaft und tugend; aber diese wissenschaft und diese tugend sind kalt. er fragt ja auch beim gedichte nicht, was steht darin, welche seele weht uns daraus an, sondern wie wirkt das auf mich und wie wird das gemacht. 53) Η 6 lobt er nicht nur, daſs die Herakleoten aus der menge ihrer unter-
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Der beste staat.
was wir hier lesen, ist der platonische staat, der in Platons Gesetzen
schon einmal auf das unter den gegebenen verhältnissen mögliche herab-
gestimmt war, und hier noch einmal einer solchen procedur unterzogen
wird. wir sehen die gröſse und die bevölkerung, oder vielmehr die
zahl der bürger fixirt; es kommt ein kümmerlicher kleinstaat heraus.
wir sehen die familie durch die regulirung der ehe und der kinder-
zeugung reglementirt, nur weit abstoſsender als bei Platon, weil jener
mit einem menschengeschlechte rechnen darf, das über das fleischliche
völlig herr geworden ist. wir sehen das eigentum durch einen halben
communismus beseitigt und daneben weiter bestehend, und sehen die
consequenz rücksichtslos gezogen, daſs um der auserwählten willen, die
sich der übung der tugend und der glückseligkeit in musse ausschlieſs-
lich hingeben, eine unbestimmte masse von sclaven und rechtlosen freien
in einem unwürdigen zustande beharren und arbeiten müssen; selbst der
ackerbau ist kein bürgerlicher beruf mehr. 52) wie diese untergeordnete
bevölkerung sowol im zustande des gehorsams wie in dem der unwür-
digkeit gehalten werden soll, wird dagegen mit nichten klar. die vor-
bedingungen der lage und des klimas werden nach Hippokrates und
Platon des näheren erörtert und der mittelweg gesucht, der zwar die
verbindung mit dem meere gestatte, aber die schädlichen folgen des
handels und der seefahrt ausschlieſse. hier gibt er geradezu an, was
noch ein par mal durchleuchtet, daſs er selbst für dieses erzeugnis seiner
freien phantasie eine bestimmte anlehnung an das existirende gesucht
hat, an das pontische Herakleia. 53) schlieſslich verliert sich der gesetz-
52) Überhaupt hat er die bedeutung des ackerbaus unterschätzt. er steht
völlig in dem banne der damaligen demokratie und sieht mit der überlegenheit des
städters, des ἀστύτϱιψ, auf den bauer hinunter, ganz wie der moderne doctrinäre
liberalismus. ihm gefällt ja an der bauerndemokratie, daſs sie conservativ ist, aber
er betrachtet sie doch als eine unvollkommene culturstufe. er lobt die tyrannen,
die für das landvolk sorgen, aber dadurch soll es eben dem staatlichen leben
fern gehalten werden. das aristophanische Athen und vollends Rom zeigen hierin
eine ungleich gesundere politische einsicht. Aristoteles hat aber auch persönlich
am landleben keinen reiz gefunden, wie nicht nur Xenophon, sondern auch Platon.
das liegt tief in seiner natur. er hat kein poetisches naturgefühl wie Platon noch
ein kindlich naives wie Xenophon. er glaubt zwar an die sterngötter, aber an der
pracht des sternes freut er sich nicht, sondern er freut sich seines ewig gleichen
wandelns. er fragt beim stern, wann geht er auf, beim baum, wie wächst er und
beim fische, wann laicht er. sein herz glüht für wissenschaft und tugend; aber
diese wissenschaft und diese tugend sind kalt. er fragt ja auch beim gedichte
nicht, was steht darin, welche seele weht uns daraus an, sondern wie wirkt das
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53) Η 6 lobt er nicht nur, daſs die Herakleoten aus der menge ihrer unter-
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