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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die politeia des Aristoteles.
die dagegen angestrebt hatten, und den Aristeides tadelt, der die grossstadt
Athen geschaffen haben sollte. aber es war für seine praktischen plane
eben etwas gegebenes; er selbst fühlte sich als moderner mensch in
der grossen stadt wol. sein staat hat natürlich geschriebene verfassung
und geschriebene gesetze. souverän ist die bürgerschaft, und jeder bürger
hat auf seinen teil der herrschaft anspruch. wahl und rechenschafts-
abnahme der beamten stehen notwendigerweise bei dem volke. es wird
auch kein rat gefehlt haben, und die beamten werden so ziemlich den
attischen entsprochen haben, nur mit freier bewegung innerhalb ihrer
sphäre. etwas über das athenische hinausgehendes sind nur die beamten,
die über die sitte und erziehung wachen. es ist freilich schwer, sich die
aristotelische politeia zu construiren, da er ja nirgend dieses bild neben
seine wunschstadt gestellt hat, und jeder einzelne zug, den man sich
aufsucht, nur eine relative giltigkeit beanspruchen kann. die hauptsache
bleibt, dass man beim lesen der Politik fortwährend an Athen und seine
publicisten, bald an Isokrates, bald an Demosthenes oder Aischines denkt,
wer einem gerade von ihnen im sinne liegt, ohne dass doch diese an-
klänge jemals mehr bedeuteten, als dass Aristoteles sich aus dem gedanken-
kreise der athenischen oder überhaupt der hellenisch-demokratischen
politik nicht loszuwinden vermag. halte man dagegen seine behandlung
des königtums: wie blass und abstract ist sie, weil er seine con-
creten beispiele eigentlich nur bei Homer finden kann, da er Kyros ver-
schmäht. an Philippos und gar Alexandros wird man nie und nirgend
erinnert, das gibt für seine politische bildung und für seine tendenz
den ausschlag.

Diese politeia kann in beliebig vielen städten nebeneinander be-
stehen und kann es auch in beliebig vielen spielarten, je nach den
bedingungen der lage und der wirtschaftlichen verhältnisse und den tra-
ditionen, bald mehr demokratisch, bald mehr oligarchisch; darauf kommt
es dem realpolitiker nicht an. Hellas wird eben, wenn es von Aristo-
telikern regirt wird, eine summe solcher Politien bilden, die einander
nichts zu leide tun, zu gute allerdings auch nichts, denn sie sind zwar
wehrhaft, so dass sie sich ihre existenz sichern können, aber sie streben
über den zustand des 'guten lebens' (tou eu zen) nicht hinaus, das ihnen
die politeia unter den richtigen politikoi gewährt. auf diesem ge-
meinsamen niveau werden sich Athen und Megara, Theben und Plataiai,
Amphipolis und Stagira vertragen und wol befinden.

Es ist ein mildes urteil, wenn man dieses Hellas gegenüber dem
attischen Reiche und dem reiche Alexanders kümmerlich nennt. wie hat

Die πολιτεία des Aristoteles.
die dagegen angestrebt hatten, und den Aristeides tadelt, der die groſsstadt
Athen geschaffen haben sollte. aber es war für seine praktischen plane
eben etwas gegebenes; er selbst fühlte sich als moderner mensch in
der groſsen stadt wol. sein staat hat natürlich geschriebene verfassung
und geschriebene gesetze. souverän ist die bürgerschaft, und jeder bürger
hat auf seinen teil der herrschaft anspruch. wahl und rechenschafts-
abnahme der beamten stehen notwendigerweise bei dem volke. es wird
auch kein rat gefehlt haben, und die beamten werden so ziemlich den
attischen entsprochen haben, nur mit freier bewegung innerhalb ihrer
sphäre. etwas über das athenische hinausgehendes sind nur die beamten,
die über die sitte und erziehung wachen. es ist freilich schwer, sich die
aristotelische πολιτεία zu construiren, da er ja nirgend dieses bild neben
seine wunschstadt gestellt hat, und jeder einzelne zug, den man sich
aufsucht, nur eine relative giltigkeit beanspruchen kann. die hauptsache
bleibt, daſs man beim lesen der Politik fortwährend an Athen und seine
publicisten, bald an Isokrates, bald an Demosthenes oder Aischines denkt,
wer einem gerade von ihnen im sinne liegt, ohne daſs doch diese an-
klänge jemals mehr bedeuteten, als daſs Aristoteles sich aus dem gedanken-
kreise der athenischen oder überhaupt der hellenisch-demokratischen
politik nicht loszuwinden vermag. halte man dagegen seine behandlung
des königtums: wie blaſs und abstract ist sie, weil er seine con-
creten beispiele eigentlich nur bei Homer finden kann, da er Kyros ver-
schmäht. an Philippos und gar Alexandros wird man nie und nirgend
erinnert, das gibt für seine politische bildung und für seine tendenz
den ausschlag.

Diese πολιτεία kann in beliebig vielen städten nebeneinander be-
stehen und kann es auch in beliebig vielen spielarten, je nach den
bedingungen der lage und der wirtschaftlichen verhältnisse und den tra-
ditionen, bald mehr demokratisch, bald mehr oligarchisch; darauf kommt
es dem realpolitiker nicht an. Hellas wird eben, wenn es von Aristo-
telikern regirt wird, eine summe solcher Politien bilden, die einander
nichts zu leide tun, zu gute allerdings auch nichts, denn sie sind zwar
wehrhaft, so daſs sie sich ihre existenz sichern können, aber sie streben
über den zustand des ‘guten lebens’ (τοῦ εὖ ζῆν) nicht hinaus, das ihnen
die πολιτεία unter den richtigen πολιτικοὶ gewährt. auf diesem ge-
meinsamen niveau werden sich Athen und Megara, Theben und Plataiai,
Amphipolis und Stagira vertragen und wol befinden.

Es ist ein mildes urteil, wenn man dieses Hellas gegenüber dem
attischen Reiche und dem reiche Alexanders kümmerlich nennt. wie hat

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[365/0379] Die πολιτεία des Aristoteles. die dagegen angestrebt hatten, und den Aristeides tadelt, der die groſsstadt Athen geschaffen haben sollte. aber es war für seine praktischen plane eben etwas gegebenes; er selbst fühlte sich als moderner mensch in der groſsen stadt wol. sein staat hat natürlich geschriebene verfassung und geschriebene gesetze. souverän ist die bürgerschaft, und jeder bürger hat auf seinen teil der herrschaft anspruch. wahl und rechenschafts- abnahme der beamten stehen notwendigerweise bei dem volke. es wird auch kein rat gefehlt haben, und die beamten werden so ziemlich den attischen entsprochen haben, nur mit freier bewegung innerhalb ihrer sphäre. etwas über das athenische hinausgehendes sind nur die beamten, die über die sitte und erziehung wachen. es ist freilich schwer, sich die aristotelische πολιτεία zu construiren, da er ja nirgend dieses bild neben seine wunschstadt gestellt hat, und jeder einzelne zug, den man sich aufsucht, nur eine relative giltigkeit beanspruchen kann. die hauptsache bleibt, daſs man beim lesen der Politik fortwährend an Athen und seine publicisten, bald an Isokrates, bald an Demosthenes oder Aischines denkt, wer einem gerade von ihnen im sinne liegt, ohne daſs doch diese an- klänge jemals mehr bedeuteten, als daſs Aristoteles sich aus dem gedanken- kreise der athenischen oder überhaupt der hellenisch-demokratischen politik nicht loszuwinden vermag. halte man dagegen seine behandlung des königtums: wie blaſs und abstract ist sie, weil er seine con- creten beispiele eigentlich nur bei Homer finden kann, da er Kyros ver- schmäht. an Philippos und gar Alexandros wird man nie und nirgend erinnert, das gibt für seine politische bildung und für seine tendenz den ausschlag. Diese πολιτεία kann in beliebig vielen städten nebeneinander be- stehen und kann es auch in beliebig vielen spielarten, je nach den bedingungen der lage und der wirtschaftlichen verhältnisse und den tra- ditionen, bald mehr demokratisch, bald mehr oligarchisch; darauf kommt es dem realpolitiker nicht an. Hellas wird eben, wenn es von Aristo- telikern regirt wird, eine summe solcher Politien bilden, die einander nichts zu leide tun, zu gute allerdings auch nichts, denn sie sind zwar wehrhaft, so daſs sie sich ihre existenz sichern können, aber sie streben über den zustand des ‘guten lebens’ (τοῦ εὖ ζῆν) nicht hinaus, das ihnen die πολιτεία unter den richtigen πολιτικοὶ gewährt. auf diesem ge- meinsamen niveau werden sich Athen und Megara, Theben und Plataiai, Amphipolis und Stagira vertragen und wol befinden. Es ist ein mildes urteil, wenn man dieses Hellas gegenüber dem attischen Reiche und dem reiche Alexanders kümmerlich nennt. wie hat

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/379>, abgerufen am 21.11.2024.