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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Wege und ziele der griechischen historie.
Griechenland schöner und hochgesinnter männer und knaben, die sich
im culte der schönheit ergehn und den traum des schönsten lebens
träumen, während über ihnen der ewigblaue himmel lacht, auch gegen-
über den romantischen gemälden von biderber Dorerweisheit und tugend
die grausame realität des leidenschaftlichsten politischen kampfes, ja
die berechtigung dieser leidenschaften mit recht zu worte kam. aber
das kann jetzt auch niemand mehr leugnen, dass die philologie, die fest
auf ihren zeugnissen stand und die überlieferung der gewaltsamen con-
struction nicht preis gab, recht behalten hat. dazu brauchte Aristoteles
nicht zu erscheinen; aber wie unangenehm er den radikaleren nach-
fahrern Grotes ist, hat ihr zorn wider sein buch gezeigt.

Grotes werk wird abgesehen von den partien, wo es wesentlich
eine raisonnirende wiedergabe der antiken erzählungen ist und für das
verständnis des Herodot, Xenophon, Diodor bedeutendes beiträgt, bald
nur noch wenig benutzt werden; der adel der künstlerischen form war
ihm wie dem Polybios versagt, mit dem er manche verwandtschaft hat.
aber der anstoss, den er der wissenschaft gegeben hat, wird fortwirken,
welche bahnen sie auch immer einschlagen wird.62)

Ein menschenalter reich an arbeit und auch an ertrag ist hin-
gegangen, und das bedürfnis einer neuen darstellung der griechischen ge-
schichte und der griechischen 'altertümer' wird nun sehr lebhaft em-
pfunden. es erscheinen auch bearbeitungen von beiden, nützliche und
unnütze. aber die altertümer sind immer noch im wesentlichen samm-
lungen von einzelheiten, und die geschichte läuft gefahr, das auch zu
werden. das sind gewiss nötige und nützliche dinge, aber poulumathie
noon ou didaskei. schlimmer ist es, wenn die historie sich selbst
zerstört. die mühlsteine der kritik drehen sich auch hier, genau wie
sie es in der textkritik getan haben, mit aller wucht weiter, ohne dass
korn nachgeschüttet wird, wie soll's da mehl geben? wenn das er-
gebnis der kritik ist, dass es keine verfassungsgeschichte Athens gibt,
so sollte man doch meinen, dass es sehr überflüssig wäre, athenische

62) Das kann man von dem eine weile bewunderten werke M. Dunckers nicht
sagen. er weiss zwar sehr genau, was Themistokles unter den oder jenen ihm von
Duncker gegebenen verhältnissen gedacht und getan hat, aber raisonnement füllt
nun einmal nicht die lücken der überlieferung, und es ist viel schlimmer, dass
Duncker sich so viel wissen zu können zugetraut hat, als dass seine aufstellungen
zumeist falsch sind und sein wissen überall aus zweiter hand. der mann, für den
seine anmutige biographie menschlich warme sympathie erweckt, war nun einmal
als historiker genau wie als politiker: der kairos war ein daemon, mit dem er sich
in keiner seiner bedeutungen zu stellen gewusst hat.

Wege und ziele der griechischen historie.
Griechenland schöner und hochgesinnter männer und knaben, die sich
im culte der schönheit ergehn und den traum des schönsten lebens
träumen, während über ihnen der ewigblaue himmel lacht, auch gegen-
über den romantischen gemälden von biderber Dorerweisheit und tugend
die grausame realität des leidenschaftlichsten politischen kampfes, ja
die berechtigung dieser leidenschaften mit recht zu worte kam. aber
das kann jetzt auch niemand mehr leugnen, daſs die philologie, die fest
auf ihren zeugnissen stand und die überlieferung der gewaltsamen con-
struction nicht preis gab, recht behalten hat. dazu brauchte Aristoteles
nicht zu erscheinen; aber wie unangenehm er den radikaleren nach-
fahrern Grotes ist, hat ihr zorn wider sein buch gezeigt.

Grotes werk wird abgesehen von den partien, wo es wesentlich
eine raisonnirende wiedergabe der antiken erzählungen ist und für das
verständnis des Herodot, Xenophon, Diodor bedeutendes beiträgt, bald
nur noch wenig benutzt werden; der adel der künstlerischen form war
ihm wie dem Polybios versagt, mit dem er manche verwandtschaft hat.
aber der anstoſs, den er der wissenschaft gegeben hat, wird fortwirken,
welche bahnen sie auch immer einschlagen wird.62)

Ein menschenalter reich an arbeit und auch an ertrag ist hin-
gegangen, und das bedürfnis einer neuen darstellung der griechischen ge-
schichte und der griechischen ‘altertümer’ wird nun sehr lebhaft em-
pfunden. es erscheinen auch bearbeitungen von beiden, nützliche und
unnütze. aber die altertümer sind immer noch im wesentlichen samm-
lungen von einzelheiten, und die geschichte läuft gefahr, das auch zu
werden. das sind gewiſs nötige und nützliche dinge, aber πουλυμαϑίη
νόον οὐ διδάσκει. schlimmer ist es, wenn die historie sich selbst
zerstört. die mühlsteine der kritik drehen sich auch hier, genau wie
sie es in der textkritik getan haben, mit aller wucht weiter, ohne daſs
korn nachgeschüttet wird, wie soll’s da mehl geben? wenn das er-
gebnis der kritik ist, daſs es keine verfassungsgeschichte Athens gibt,
so sollte man doch meinen, daſs es sehr überflüssig wäre, athenische

62) Das kann man von dem eine weile bewunderten werke M. Dunckers nicht
sagen. er weiſs zwar sehr genau, was Themistokles unter den oder jenen ihm von
Duncker gegebenen verhältnissen gedacht und getan hat, aber raisonnement füllt
nun einmal nicht die lücken der überlieferung, und es ist viel schlimmer, daſs
Duncker sich so viel wissen zu können zugetraut hat, als daſs seine aufstellungen
zumeist falsch sind und sein wissen überall aus zweiter hand. der mann, für den
seine anmutige biographie menschlich warme sympathie erweckt, war nun einmal
als historiker genau wie als politiker: der καιϱός war ein daemon, mit dem er sich
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[379/0393] Wege und ziele der griechischen historie. Griechenland schöner und hochgesinnter männer und knaben, die sich im culte der schönheit ergehn und den traum des schönsten lebens träumen, während über ihnen der ewigblaue himmel lacht, auch gegen- über den romantischen gemälden von biderber Dorerweisheit und tugend die grausame realität des leidenschaftlichsten politischen kampfes, ja die berechtigung dieser leidenschaften mit recht zu worte kam. aber das kann jetzt auch niemand mehr leugnen, daſs die philologie, die fest auf ihren zeugnissen stand und die überlieferung der gewaltsamen con- struction nicht preis gab, recht behalten hat. dazu brauchte Aristoteles nicht zu erscheinen; aber wie unangenehm er den radikaleren nach- fahrern Grotes ist, hat ihr zorn wider sein buch gezeigt. Grotes werk wird abgesehen von den partien, wo es wesentlich eine raisonnirende wiedergabe der antiken erzählungen ist und für das verständnis des Herodot, Xenophon, Diodor bedeutendes beiträgt, bald nur noch wenig benutzt werden; der adel der künstlerischen form war ihm wie dem Polybios versagt, mit dem er manche verwandtschaft hat. aber der anstoſs, den er der wissenschaft gegeben hat, wird fortwirken, welche bahnen sie auch immer einschlagen wird. 62) Ein menschenalter reich an arbeit und auch an ertrag ist hin- gegangen, und das bedürfnis einer neuen darstellung der griechischen ge- schichte und der griechischen ‘altertümer’ wird nun sehr lebhaft em- pfunden. es erscheinen auch bearbeitungen von beiden, nützliche und unnütze. aber die altertümer sind immer noch im wesentlichen samm- lungen von einzelheiten, und die geschichte läuft gefahr, das auch zu werden. das sind gewiſs nötige und nützliche dinge, aber πουλυμαϑίη νόον οὐ διδάσκει. schlimmer ist es, wenn die historie sich selbst zerstört. die mühlsteine der kritik drehen sich auch hier, genau wie sie es in der textkritik getan haben, mit aller wucht weiter, ohne daſs korn nachgeschüttet wird, wie soll’s da mehl geben? wenn das er- gebnis der kritik ist, daſs es keine verfassungsgeschichte Athens gibt, so sollte man doch meinen, daſs es sehr überflüssig wäre, athenische 62) Das kann man von dem eine weile bewunderten werke M. Dunckers nicht sagen. er weiſs zwar sehr genau, was Themistokles unter den oder jenen ihm von Duncker gegebenen verhältnissen gedacht und getan hat, aber raisonnement füllt nun einmal nicht die lücken der überlieferung, und es ist viel schlimmer, daſs Duncker sich so viel wissen zu können zugetraut hat, als daſs seine aufstellungen zumeist falsch sind und sein wissen überall aus zweiter hand. der mann, für den seine anmutige biographie menschlich warme sympathie erweckt, war nun einmal als historiker genau wie als politiker: der καιϱός war ein daemon, mit dem er sich in keiner seiner bedeutungen zu stellen gewuſst hat.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/393>, abgerufen am 24.11.2024.