Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Disposition des berichtes. die münzreform.
gedichte zurück; was dazwischen steht, ist so disponirt, dass gleich ein-
gesetzt wird mit seiner ersten und wichtigsten tat, der seisachthie (6, 1),
der wirtschaftlichen reform, auf die die ganze vorgeschichte Athens voraus
wies. dann folgt der act seiner für die zukunft feierlich bekräftigten
gesetzgebung, die also im prinzipe trotz allen revolutionen weiter giltig
ist (7, 1. 2). dann sollen wir diese solonische verfassung kennen lernen,
erfahren aber nur die auf grund der vier steuerclassen abgestuften
bürgerlichen rechte (7, 3. 4), den wahlmodus der beamten, über die
einiges weitere, auch rückgreifend, beigebracht wird (8), endlich als die
wichtigsten demokratischen neuerungen die seisachthie, die wir doch
schon kannten, und zwei volks- und grundrechte, das timorein exeinai
to boulomeno uper tou adikoumenou und die ephesis eis dikasterion
(9), von denen wir erst hier etwas hören, und aus denen wir die einsetzung
der volksgerichte selbst erst erschliessen. es ist also das referat mit
dem beurteilenden raisonnement vermischt. endlich kommt die änderung
von münze mass und gewicht nach, auch lediglich als volksfreundliche
massregel gewürdigt (10). das ist nicht sehr viel, und loben kann man die
anordnung schwerlich, da sich der stoff unter die disposition nicht fügt, so
dass die ältere darstellung in der Politik, so kurz sie ist, manches schärfer
erkennen lässt. so schreibt ein gewiegter stilist nicht, wenn er frei seinen
eignen weg geht. es erklärt sich vielmehr daraus, dass er mehrere vermut-
lich ziemlich ausführliche, in den grundzügen auf derselben primärfassung
beruhende erzählungen vor sich hat, die mehr in dem urteil als in den
sachen abweichen, und daneben andere nicht sowol erzählende als räson-
nirende behandlungen der solonischen gesetzgebung, auf die er schon
in der Politik hingewiesen hat. es lässt sich zur evidenz bringen, dass
Aristoteles hier auch nicht das mindeste von tatsächlichem materiale aus
eigner forschung gegeben hat; eigen ist ihm nur auswahl und urteil,
und in beiden verdient er keineswegs nur lob. gewiss ist er kein aus-
schreiber, aber er schreibt hier andere aus.

Beginnen wir mit cap. 10, der reform von mass münze und gewicht.Die münz-
reform.

dass es nachklappt und für die disposition nicht nur sehr gut fehlen
könnte, sondern besser fehlen würde, muss ein aufmerksamer leser sofort
sehen. der versuch der athetese wird gewiss noch gemacht werden,
ebenso wie man in zukunft, wie schon jetzt mehrfach, versuchen wird
mit list oder gewalt die wahrheit hinein zu bringen. denn was hier
steht, ist allerdings sehr verkehrt. die wahrheit ist bekanntlich, dass
Solon die aiginetische währung Athens mit der chalkidischen vertauscht
hat, und dass sich die chalkidische drachme zur aiginetischen wie 73:100

Disposition des berichtes. die münzreform.
gedichte zurück; was dazwischen steht, ist so disponirt, daſs gleich ein-
gesetzt wird mit seiner ersten und wichtigsten tat, der seisachthie (6, 1),
der wirtschaftlichen reform, auf die die ganze vorgeschichte Athens voraus
wies. dann folgt der act seiner für die zukunft feierlich bekräftigten
gesetzgebung, die also im prinzipe trotz allen revolutionen weiter giltig
ist (7, 1. 2). dann sollen wir diese solonische verfassung kennen lernen,
erfahren aber nur die auf grund der vier steuerclassen abgestuften
bürgerlichen rechte (7, 3. 4), den wahlmodus der beamten, über die
einiges weitere, auch rückgreifend, beigebracht wird (8), endlich als die
wichtigsten demokratischen neuerungen die seisachthie, die wir doch
schon kannten, und zwei volks- und grundrechte, das τιμωϱεῖν ἐξεῖναι
τῷ βουλομένῳ ὑπὲϱ τοῦ ἀδικουμένου und die ἔφεσις εἰς δικαστήϱιον
(9), von denen wir erst hier etwas hören, und aus denen wir die einsetzung
der volksgerichte selbst erst erschlieſsen. es ist also das referat mit
dem beurteilenden raisonnement vermischt. endlich kommt die änderung
von münze maſs und gewicht nach, auch lediglich als volksfreundliche
maſsregel gewürdigt (10). das ist nicht sehr viel, und loben kann man die
anordnung schwerlich, da sich der stoff unter die disposition nicht fügt, so
daſs die ältere darstellung in der Politik, so kurz sie ist, manches schärfer
erkennen läſst. so schreibt ein gewiegter stilist nicht, wenn er frei seinen
eignen weg geht. es erklärt sich vielmehr daraus, daſs er mehrere vermut-
lich ziemlich ausführliche, in den grundzügen auf derselben primärfassung
beruhende erzählungen vor sich hat, die mehr in dem urteil als in den
sachen abweichen, und daneben andere nicht sowol erzählende als räson-
nirende behandlungen der solonischen gesetzgebung, auf die er schon
in der Politik hingewiesen hat. es läſst sich zur evidenz bringen, daſs
Aristoteles hier auch nicht das mindeste von tatsächlichem materiale aus
eigner forschung gegeben hat; eigen ist ihm nur auswahl und urteil,
und in beiden verdient er keineswegs nur lob. gewiſs ist er kein aus-
schreiber, aber er schreibt hier andere aus.

Beginnen wir mit cap. 10, der reform von maſs münze und gewicht.Die münz-
reform.

daſs es nachklappt und für die disposition nicht nur sehr gut fehlen
könnte, sondern besser fehlen würde, muſs ein aufmerksamer leser sofort
sehen. der versuch der athetese wird gewiſs noch gemacht werden,
ebenso wie man in zukunft, wie schon jetzt mehrfach, versuchen wird
mit list oder gewalt die wahrheit hinein zu bringen. denn was hier
steht, ist allerdings sehr verkehrt. die wahrheit ist bekanntlich, daſs
Solon die aiginetische währung Athens mit der chalkidischen vertauscht
hat, und daſs sich die chalkidische drachme zur aiginetischen wie 73:100

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="41"/><fw place="top" type="header">Disposition des berichtes. die münzreform.</fw><lb/>
gedichte zurück; was dazwischen steht, ist so disponirt, da&#x017F;s gleich ein-<lb/>
gesetzt wird mit seiner ersten und wichtigsten tat, der seisachthie (6, 1),<lb/>
der wirtschaftlichen reform, auf die die ganze vorgeschichte Athens voraus<lb/>
wies. dann folgt der act seiner für die zukunft feierlich bekräftigten<lb/>
gesetzgebung, die also im prinzipe trotz allen revolutionen weiter giltig<lb/>
ist (7, 1. 2). dann sollen wir diese solonische verfassung kennen lernen,<lb/>
erfahren aber nur die auf grund der vier steuerclassen abgestuften<lb/>
bürgerlichen rechte (7, 3. 4), den wahlmodus der beamten, über die<lb/>
einiges weitere, auch rückgreifend, beigebracht wird (8), endlich als die<lb/>
wichtigsten demokratischen neuerungen die seisachthie, die wir doch<lb/>
schon kannten, und zwei volks- und grundrechte, das &#x03C4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03C9;&#x03F1;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BE;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9;<lb/>
&#x03C4;&#x1FF7; &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03BF;&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x1FF3; &#x1F51;&#x03C0;&#x1F72;&#x03F1; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;&#x03B4;&#x03B9;&#x03BA;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C5; und die &#x1F14;&#x03C6;&#x03B5;&#x03C3;&#x03B9;&#x03C2; &#x03B5;&#x1F30;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B9;&#x03BA;&#x03B1;&#x03C3;&#x03C4;&#x03AE;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03BD;<lb/>
(9), von denen wir erst hier etwas hören, und aus denen wir die einsetzung<lb/>
der volksgerichte selbst erst erschlie&#x017F;sen. es ist also das referat mit<lb/>
dem beurteilenden raisonnement vermischt. endlich kommt die änderung<lb/>
von münze ma&#x017F;s und gewicht nach, auch lediglich als volksfreundliche<lb/>
ma&#x017F;sregel gewürdigt (10). das ist nicht sehr viel, und loben kann man die<lb/>
anordnung schwerlich, da sich der stoff unter die disposition nicht fügt, so<lb/>
da&#x017F;s die ältere darstellung in der Politik, so kurz sie ist, manches schärfer<lb/>
erkennen lä&#x017F;st. so schreibt ein gewiegter stilist nicht, wenn er frei seinen<lb/>
eignen weg geht. es erklärt sich vielmehr daraus, da&#x017F;s er mehrere vermut-<lb/>
lich ziemlich ausführliche, in den grundzügen auf derselben primärfassung<lb/>
beruhende erzählungen vor sich hat, die mehr in dem urteil als in den<lb/>
sachen abweichen, und daneben andere nicht sowol erzählende als räson-<lb/>
nirende behandlungen der solonischen gesetzgebung, auf die er schon<lb/>
in der Politik hingewiesen hat. es lä&#x017F;st sich zur evidenz bringen, da&#x017F;s<lb/>
Aristoteles hier auch nicht das mindeste von tatsächlichem materiale aus<lb/>
eigner forschung gegeben hat; eigen ist ihm nur auswahl und urteil,<lb/>
und in beiden verdient er keineswegs nur lob. gewi&#x017F;s ist er kein aus-<lb/>
schreiber, aber er schreibt hier andere aus.</p><lb/>
          <p>Beginnen wir mit cap. 10, der reform von ma&#x017F;s münze und gewicht.<note place="right">Die münz-<lb/>
reform.</note><lb/>
da&#x017F;s es nachklappt und für die disposition nicht nur sehr gut fehlen<lb/>
könnte, sondern besser fehlen würde, mu&#x017F;s ein aufmerksamer leser sofort<lb/>
sehen. der versuch der athetese wird gewi&#x017F;s noch gemacht werden,<lb/>
ebenso wie man in zukunft, wie schon jetzt mehrfach, versuchen wird<lb/>
mit list oder gewalt die wahrheit hinein zu bringen. denn was hier<lb/>
steht, ist allerdings sehr verkehrt. die wahrheit ist bekanntlich, da&#x017F;s<lb/>
Solon die aiginetische währung Athens mit der chalkidischen vertauscht<lb/>
hat, und da&#x017F;s sich die chalkidische drachme zur aiginetischen wie 73:100<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0055] Disposition des berichtes. die münzreform. gedichte zurück; was dazwischen steht, ist so disponirt, daſs gleich ein- gesetzt wird mit seiner ersten und wichtigsten tat, der seisachthie (6, 1), der wirtschaftlichen reform, auf die die ganze vorgeschichte Athens voraus wies. dann folgt der act seiner für die zukunft feierlich bekräftigten gesetzgebung, die also im prinzipe trotz allen revolutionen weiter giltig ist (7, 1. 2). dann sollen wir diese solonische verfassung kennen lernen, erfahren aber nur die auf grund der vier steuerclassen abgestuften bürgerlichen rechte (7, 3. 4), den wahlmodus der beamten, über die einiges weitere, auch rückgreifend, beigebracht wird (8), endlich als die wichtigsten demokratischen neuerungen die seisachthie, die wir doch schon kannten, und zwei volks- und grundrechte, das τιμωϱεῖν ἐξεῖναι τῷ βουλομένῳ ὑπὲϱ τοῦ ἀδικουμένου und die ἔφεσις εἰς δικαστήϱιον (9), von denen wir erst hier etwas hören, und aus denen wir die einsetzung der volksgerichte selbst erst erschlieſsen. es ist also das referat mit dem beurteilenden raisonnement vermischt. endlich kommt die änderung von münze maſs und gewicht nach, auch lediglich als volksfreundliche maſsregel gewürdigt (10). das ist nicht sehr viel, und loben kann man die anordnung schwerlich, da sich der stoff unter die disposition nicht fügt, so daſs die ältere darstellung in der Politik, so kurz sie ist, manches schärfer erkennen läſst. so schreibt ein gewiegter stilist nicht, wenn er frei seinen eignen weg geht. es erklärt sich vielmehr daraus, daſs er mehrere vermut- lich ziemlich ausführliche, in den grundzügen auf derselben primärfassung beruhende erzählungen vor sich hat, die mehr in dem urteil als in den sachen abweichen, und daneben andere nicht sowol erzählende als räson- nirende behandlungen der solonischen gesetzgebung, auf die er schon in der Politik hingewiesen hat. es läſst sich zur evidenz bringen, daſs Aristoteles hier auch nicht das mindeste von tatsächlichem materiale aus eigner forschung gegeben hat; eigen ist ihm nur auswahl und urteil, und in beiden verdient er keineswegs nur lob. gewiſs ist er kein aus- schreiber, aber er schreibt hier andere aus. Beginnen wir mit cap. 10, der reform von maſs münze und gewicht. daſs es nachklappt und für die disposition nicht nur sehr gut fehlen könnte, sondern besser fehlen würde, muſs ein aufmerksamer leser sofort sehen. der versuch der athetese wird gewiſs noch gemacht werden, ebenso wie man in zukunft, wie schon jetzt mehrfach, versuchen wird mit list oder gewalt die wahrheit hinein zu bringen. denn was hier steht, ist allerdings sehr verkehrt. die wahrheit ist bekanntlich, daſs Solon die aiginetische währung Athens mit der chalkidischen vertauscht hat, und daſs sich die chalkidische drachme zur aiginetischen wie 73:100 Die münz- reform.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/55
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/55>, abgerufen am 21.11.2024.