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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 3. Solon.
einer gesetzlichen bestimmung über dieselbe materie, die ganz unorganisch
in der erzählung von Peisistratos steht (16, 10). der über die mörder
Kylons richtende ausnahmegerichtshof bildet das erste glied der ent-
wickelung dieses rechtes, das also den Aristoteles interessirt hat, so dass
er die ihm irgend woher bekannten gesetze hier und da eingefügt hat,
nicht ohne dass wir die fugen sähen. seltsam ist nur, dass die letzte
etappe fehlt, das masslos strenge geltende recht, nach dem der versuch
des umsturzes der verfassung oder auch die mithülfe dazu nicht bloss
mit dem tode geahndet wird, sondern den schuldigen ohne weiteres
vogelfrei macht. sie fehlt wol in wahrheit nicht, denn nach der ana-
logie der fluchformeln der volksversammlung (Aristoph. Thesm. 338 ff.),
dem ratseide von Erythrai (CIA I 9) und dem psephisma des Demophantos
ist nicht wol zu bezweifeln, dass der eid der attischen ratsherrn die ver-
fluchung des perduellis enthielt, und dessen einführung im jahre 501
berichtet Aristoteles (22, 2), ohne den inhalt, weil der eid noch alljährlich
geschworen wird, anzugeben.23) vollends nur als eine singularität, die den
peripatetischen philosophen interessirt hat, für den historiker wenig be-
deutet, kann man das gesetz betrachten, das dem in einer revolution
neutralen die bürgerlichen ehrenrechte entzieht (8, 5). das hat auch
Cicero (ad Att. X 1) gekannt, natürlich aus philosophischer lectüre, und
es eröffnet bei Plutarch (Sol. 20) die reihe der seltsamen solonischen
gesetze, über deren wert oder unwert lange disputirt wird. das hat
denn auch Aristoteles aus solchen debatten hier eingelegt. sonst gehört

23) Der fortschritt der entwickelung ist kenntlich. zunächst gibt es gegen
den gewaltstreich die gewalt, Kylon wird erschlagen. dagegen reagirt die in die
form des gesetzes gekleidete gewalt, das ausnahmegericht. Solon schafft gesetzliche
ahndung, aber er bestimmt nur den richter, dem die freiheit bleibt festzusetzen o ti
khre pathein e apoteisai. es folgt eine zeit der revolutionen, in der notwendiger-
weise die parteiungen und gegensätze den areopagitischen rat selbst zerklüften, so
dass die ihm verliehene discretionäre gewalt zur willkür wird. da hilft die praotes
der Athener so, dass sie als patrion hinstellt, die überwundene partei soll nichts
als die bürgerliche rechtsgleichheit verlieren: das wird meistens so viel wie ver-
bannung tatsächlich bedeutet haben, aber das blut ward doch gespart. erst als die
demokratie siegreich ist und gegen den ehrgeiz ihrer eigenen führer das palliativ-
mittel des ostrakismos gesetzlich einführt, schreitet sie andererseits zu dem äussersten,
den epanistamenos turannein und den sugkathistas turannida zu ächten. die
übereinstimmung der formeln bei Aristoteles und im psephisma des Demophantos
(die nicht nur die Aristotelesstelle verbessert, sondern auch Andok. 1, 97 ean tis
turannein epanaste gegen zusätze schützt) hat ganz klar gemacht, was man schon
früher schloss, dass die restauration 411 auf die alten eide von 501 zurückgegriffen
hat. um so wertvoller ist was wir dem Andokides danken.

I. 3. Solon.
einer gesetzlichen bestimmung über dieselbe materie, die ganz unorganisch
in der erzählung von Peisistratos steht (16, 10). der über die mörder
Kylons richtende ausnahmegerichtshof bildet das erste glied der ent-
wickelung dieses rechtes, das also den Aristoteles interessirt hat, so daſs
er die ihm irgend woher bekannten gesetze hier und da eingefügt hat,
nicht ohne daſs wir die fugen sähen. seltsam ist nur, daſs die letzte
etappe fehlt, das maſslos strenge geltende recht, nach dem der versuch
des umsturzes der verfassung oder auch die mithülfe dazu nicht bloſs
mit dem tode geahndet wird, sondern den schuldigen ohne weiteres
vogelfrei macht. sie fehlt wol in wahrheit nicht, denn nach der ana-
logie der fluchformeln der volksversammlung (Aristoph. Thesm. 338 ff.),
dem ratseide von Erythrai (CIA I 9) und dem psephisma des Demophantos
ist nicht wol zu bezweifeln, daſs der eid der attischen ratsherrn die ver-
fluchung des perduellis enthielt, und dessen einführung im jahre 501
berichtet Aristoteles (22, 2), ohne den inhalt, weil der eid noch alljährlich
geschworen wird, anzugeben.23) vollends nur als eine singularität, die den
peripatetischen philosophen interessirt hat, für den historiker wenig be-
deutet, kann man das gesetz betrachten, das dem in einer revolution
neutralen die bürgerlichen ehrenrechte entzieht (8, 5). das hat auch
Cicero (ad Att. X 1) gekannt, natürlich aus philosophischer lectüre, und
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gesetze, über deren wert oder unwert lange disputirt wird. das hat
denn auch Aristoteles aus solchen debatten hier eingelegt. sonst gehört

23) Der fortschritt der entwickelung ist kenntlich. zunächst gibt es gegen
den gewaltstreich die gewalt, Kylon wird erschlagen. dagegen reagirt die in die
form des gesetzes gekleidete gewalt, das ausnahmegericht. Solon schafft gesetzliche
ahndung, aber er bestimmt nur den richter, dem die freiheit bleibt festzusetzen ὅ τι
χϱὴ παϑεῖν ἢ ἀποτεῖσαι. es folgt eine zeit der revolutionen, in der notwendiger-
weise die parteiungen und gegensätze den areopagitischen rat selbst zerklüften, so
daſs die ihm verliehene discretionäre gewalt zur willkür wird. da hilft die πϱᾳότης
der Athener so, daſs sie als πάτϱιον hinstellt, die überwundene partei soll nichts
als die bürgerliche rechtsgleichheit verlieren: das wird meistens so viel wie ver-
bannung tatsächlich bedeutet haben, aber das blut ward doch gespart. erst als die
demokratie siegreich ist und gegen den ehrgeiz ihrer eigenen führer das palliativ-
mittel des ostrakismos gesetzlich einführt, schreitet sie andererseits zu dem äuſsersten,
den ἐπανιστάμενος τυϱαννεῖν und den συγκαϑιστὰς τυϱαννίδα zu ächten. die
übereinstimmung der formeln bei Aristoteles und im psephisma des Demophantos
(die nicht nur die Aristotelesstelle verbessert, sondern auch Andok. 1, 97 ἐάν τις
τυϱαννεῖν ἐπαναστῇ gegen zusätze schützt) hat ganz klar gemacht, was man schon
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[54/0068] I. 3. Solon. einer gesetzlichen bestimmung über dieselbe materie, die ganz unorganisch in der erzählung von Peisistratos steht (16, 10). der über die mörder Kylons richtende ausnahmegerichtshof bildet das erste glied der ent- wickelung dieses rechtes, das also den Aristoteles interessirt hat, so daſs er die ihm irgend woher bekannten gesetze hier und da eingefügt hat, nicht ohne daſs wir die fugen sähen. seltsam ist nur, daſs die letzte etappe fehlt, das maſslos strenge geltende recht, nach dem der versuch des umsturzes der verfassung oder auch die mithülfe dazu nicht bloſs mit dem tode geahndet wird, sondern den schuldigen ohne weiteres vogelfrei macht. sie fehlt wol in wahrheit nicht, denn nach der ana- logie der fluchformeln der volksversammlung (Aristoph. Thesm. 338 ff.), dem ratseide von Erythrai (CIA I 9) und dem psephisma des Demophantos ist nicht wol zu bezweifeln, daſs der eid der attischen ratsherrn die ver- fluchung des perduellis enthielt, und dessen einführung im jahre 501 berichtet Aristoteles (22, 2), ohne den inhalt, weil der eid noch alljährlich geschworen wird, anzugeben. 23) vollends nur als eine singularität, die den peripatetischen philosophen interessirt hat, für den historiker wenig be- deutet, kann man das gesetz betrachten, das dem in einer revolution neutralen die bürgerlichen ehrenrechte entzieht (8, 5). das hat auch Cicero (ad Att. X 1) gekannt, natürlich aus philosophischer lectüre, und es eröffnet bei Plutarch (Sol. 20) die reihe der seltsamen solonischen gesetze, über deren wert oder unwert lange disputirt wird. das hat denn auch Aristoteles aus solchen debatten hier eingelegt. sonst gehört 23) Der fortschritt der entwickelung ist kenntlich. zunächst gibt es gegen den gewaltstreich die gewalt, Kylon wird erschlagen. dagegen reagirt die in die form des gesetzes gekleidete gewalt, das ausnahmegericht. Solon schafft gesetzliche ahndung, aber er bestimmt nur den richter, dem die freiheit bleibt festzusetzen ὅ τι χϱὴ παϑεῖν ἢ ἀποτεῖσαι. es folgt eine zeit der revolutionen, in der notwendiger- weise die parteiungen und gegensätze den areopagitischen rat selbst zerklüften, so daſs die ihm verliehene discretionäre gewalt zur willkür wird. da hilft die πϱᾳότης der Athener so, daſs sie als πάτϱιον hinstellt, die überwundene partei soll nichts als die bürgerliche rechtsgleichheit verlieren: das wird meistens so viel wie ver- bannung tatsächlich bedeutet haben, aber das blut ward doch gespart. erst als die demokratie siegreich ist und gegen den ehrgeiz ihrer eigenen führer das palliativ- mittel des ostrakismos gesetzlich einführt, schreitet sie andererseits zu dem äuſsersten, den ἐπανιστάμενος τυϱαννεῖν und den συγκαϑιστὰς τυϱαννίδα zu ächten. die übereinstimmung der formeln bei Aristoteles und im psephisma des Demophantos (die nicht nur die Aristotelesstelle verbessert, sondern auch Andok. 1, 97 ἐάν τις τυϱαννεῖν ἐπαναστῇ gegen zusätze schützt) hat ganz klar gemacht, was man schon früher schloſs, daſs die restauration 411 auf die alten eide von 501 zurückgegriffen hat. um so wertvoller ist was wir dem Andokides danken.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/68>, abgerufen am 21.11.2024.