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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 4. Drakons verfassung.
die leute umfasste, die sich ein pferd halten konnten und beritten zu
felde zogen. ist also eine zahl falsch, so fragt sich immer noch, welche.
das hängt von dem begriffe ousia ab. wenn es das einkommen be-
zeichnen könnte, so wären 10000 dr. zu viel. aber ousia heisst eben
nicht einkommen, und eleutheros passt auch dazu nicht. es ist ein
fehler, dass wir uns in unserer ausgabe durch die analogie der soloni-
schen classen und die leichtigkeit ekaton zu emendiren haben ver-
leiten lassen, diesen weg zu gehn. bedeutet also ousia das vermögen,
wie immer, so ist die erste zahl verdorben, denn selbst bei 20 % zinsen
ergibt sie nur ein einkommen von 200 dr., und dabei soll der mann
der ersten classe für eine versäumte sitzung 3 dr. strafe zahlen, drei-
mal so viel als nach dem verfassungsentwurfe von 411, so dass die
ausrede, der wert des geldes wäre unverhältnismässig höher gewesen,
nicht zieht. es ist also deka verdorben, und die zahl, die da gestanden
hat, war viel höher als 100. man erwartet diakosion8); aber zahlwörter
lassen sich aufs gerade wol schlecht verbessern.

Wenn wir so wenigstens im allgemeinen wissen, was die stelle
besagen will, so erheben sich sofort zwei neue bedenken. konnte
denn Drakon von minen reden, da es doch noch keine attische münze
gab? und wie kam er dazu, die classen, deren namen auf das ein-
kommen bezogen sind, auf das vermögen zu stellen? beiden fragen soll
ihre antwort werden.

Die münze.Es ist wahr, es gab noch kein attisches geld. aber das gab es auch
nicht, als Solon ein par jahre später den münzfuss änderte, und selbst
er hat die attische prägung nicht angefangen, sondern erst Peisistratos.9)
der wirtschaftliche fortschritt liegt ja nicht in der staatlichen stempelung
der cursirenden metallstücke, sondern in der einführung des edelmetalls
als des massgebenden tauschmittels und dem entsprechend eines festen
gewichtsystemes. beides hat notorisch lange vor Solon bestanden, denn
er hat es geändert und fand die hypothekenschulden auf drachmen
normirt vor. er war selbst ein handelsmann und hatte viele ferne
küsten befahren: der handel war längst nicht nur rechnungsmässig auf
geld gestellt, sondern es cursirten auch münzen, nur noch keine atti-
schen. nicht von ferne also kann die mine oder drachme in den drakon-
tischen gesetzen befremden; 100 minen, wo man später 10000 drachmen

8) So hatte mittlerweile Weil ebenfalls vermutet, dem ich die priorität der
veröffentlichung gern bezeuge.
9) Ich verstehe nichts von münzen, bin also auf die autorität anderer an-
gewiesen, Head doctr. numm. 309 und die dort citirten.

I. 4. Drakons verfassung.
die leute umfasste, die sich ein pferd halten konnten und beritten zu
felde zogen. ist also eine zahl falsch, so fragt sich immer noch, welche.
das hängt von dem begriffe οὐσία ab. wenn es das einkommen be-
zeichnen könnte, so wären 10000 dr. zu viel. aber οὐσία heiſst eben
nicht einkommen, und ἐλεύϑεϱος paſst auch dazu nicht. es ist ein
fehler, daſs wir uns in unserer ausgabe durch die analogie der soloni-
schen classen und die leichtigkeit ἑκατόν zu emendiren haben ver-
leiten lassen, diesen weg zu gehn. bedeutet also οὐσία das vermögen,
wie immer, so ist die erste zahl verdorben, denn selbst bei 20 % zinsen
ergibt sie nur ein einkommen von 200 dr., und dabei soll der mann
der ersten classe für eine versäumte sitzung 3 dr. strafe zahlen, drei-
mal so viel als nach dem verfassungsentwurfe von 411, so daſs die
ausrede, der wert des geldes wäre unverhältnismäſsig höher gewesen,
nicht zieht. es ist also δέκα verdorben, und die zahl, die da gestanden
hat, war viel höher als 100. man erwartet διακοσίων8); aber zahlwörter
lassen sich aufs gerade wol schlecht verbessern.

Wenn wir so wenigstens im allgemeinen wissen, was die stelle
besagen will, so erheben sich sofort zwei neue bedenken. konnte
denn Drakon von minen reden, da es doch noch keine attische münze
gab? und wie kam er dazu, die classen, deren namen auf das ein-
kommen bezogen sind, auf das vermögen zu stellen? beiden fragen soll
ihre antwort werden.

Die münze.Es ist wahr, es gab noch kein attisches geld. aber das gab es auch
nicht, als Solon ein par jahre später den münzfuſs änderte, und selbst
er hat die attische prägung nicht angefangen, sondern erst Peisistratos.9)
der wirtschaftliche fortschritt liegt ja nicht in der staatlichen stempelung
der cursirenden metallstücke, sondern in der einführung des edelmetalls
als des maſsgebenden tauschmittels und dem entsprechend eines festen
gewichtsystemes. beides hat notorisch lange vor Solon bestanden, denn
er hat es geändert und fand die hypothekenschulden auf drachmen
normirt vor. er war selbst ein handelsmann und hatte viele ferne
küsten befahren: der handel war längst nicht nur rechnungsmäſsig auf
geld gestellt, sondern es cursirten auch münzen, nur noch keine atti-
schen. nicht von ferne also kann die mine oder drachme in den drakon-
tischen gesetzen befremden; 100 minen, wo man später 10000 drachmen

8) So hatte mittlerweile Weil ebenfalls vermutet, dem ich die priorität der
veröffentlichung gern bezeuge.
9) Ich verstehe nichts von münzen, bin also auf die autorität anderer an-
gewiesen, Head doctr. numm. 309 und die dort citirten.
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[80/0094] I. 4. Drakons verfassung. die leute umfasste, die sich ein pferd halten konnten und beritten zu felde zogen. ist also eine zahl falsch, so fragt sich immer noch, welche. das hängt von dem begriffe οὐσία ab. wenn es das einkommen be- zeichnen könnte, so wären 10000 dr. zu viel. aber οὐσία heiſst eben nicht einkommen, und ἐλεύϑεϱος paſst auch dazu nicht. es ist ein fehler, daſs wir uns in unserer ausgabe durch die analogie der soloni- schen classen und die leichtigkeit ἑκατόν zu emendiren haben ver- leiten lassen, diesen weg zu gehn. bedeutet also οὐσία das vermögen, wie immer, so ist die erste zahl verdorben, denn selbst bei 20 % zinsen ergibt sie nur ein einkommen von 200 dr., und dabei soll der mann der ersten classe für eine versäumte sitzung 3 dr. strafe zahlen, drei- mal so viel als nach dem verfassungsentwurfe von 411, so daſs die ausrede, der wert des geldes wäre unverhältnismäſsig höher gewesen, nicht zieht. es ist also δέκα verdorben, und die zahl, die da gestanden hat, war viel höher als 100. man erwartet διακοσίων 8); aber zahlwörter lassen sich aufs gerade wol schlecht verbessern. Wenn wir so wenigstens im allgemeinen wissen, was die stelle besagen will, so erheben sich sofort zwei neue bedenken. konnte denn Drakon von minen reden, da es doch noch keine attische münze gab? und wie kam er dazu, die classen, deren namen auf das ein- kommen bezogen sind, auf das vermögen zu stellen? beiden fragen soll ihre antwort werden. Es ist wahr, es gab noch kein attisches geld. aber das gab es auch nicht, als Solon ein par jahre später den münzfuſs änderte, und selbst er hat die attische prägung nicht angefangen, sondern erst Peisistratos. 9) der wirtschaftliche fortschritt liegt ja nicht in der staatlichen stempelung der cursirenden metallstücke, sondern in der einführung des edelmetalls als des maſsgebenden tauschmittels und dem entsprechend eines festen gewichtsystemes. beides hat notorisch lange vor Solon bestanden, denn er hat es geändert und fand die hypothekenschulden auf drachmen normirt vor. er war selbst ein handelsmann und hatte viele ferne küsten befahren: der handel war längst nicht nur rechnungsmäſsig auf geld gestellt, sondern es cursirten auch münzen, nur noch keine atti- schen. nicht von ferne also kann die mine oder drachme in den drakon- tischen gesetzen befremden; 100 minen, wo man später 10000 drachmen Die münze. 8) So hatte mittlerweile Weil ebenfalls vermutet, dem ich die priorität der veröffentlichung gern bezeuge. 9) Ich verstehe nichts von münzen, bin also auf die autorität anderer an- gewiesen, Head doctr. numm. 309 und die dort citirten.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/94>, abgerufen am 24.11.2024.