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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 4. Patrios politeia.
schränkten sie sich zunächst darauf, zwei hauptprincipien durchzubringen,
die offenbar in sehr weiten kreisen beifall fanden, die ausschliessung
der theten von den politischen rechten, und die aufhebung des soldes.
beides konnte mit fug und recht als eine rückkehr zur väterlichen ver-
fassung bezeichnet werden. der sold war erst durch Perikles eingeführt,
und man war massvoll genug, ihn, wenn auch in der geringen höhe
von 1/2 dr., für den ratsausschuss und die archonten bestehn zu lassen;
er war wol sicher in beiden fällen ersatz für ältere naturalverpflegung.
die beschränkung der politischen rechte auf die hopliten, d. h. die opla
parekhomenoi, gieng allerdings über Solon hinaus, aber die formel selbst
war genau die drakontische, und da es mindestens 5000 sein sollten,
und die auswahl einer starken vertretung der phylen anheimgegeben
ward, so mochte der demos mit grund annehmen dass diese neue bürger-
schaft nicht für die oligarchie zu haben sein würde. übrigens sollte sie
zunächst nur für die dauer des krieges bestehn.

Als sie ausgemustert war und zusammentrat, führten die oligarchen
den zweiten streich und setzten eine commission für den entwurf einer
verfassung durch. sie war zwar 100 leute stark, aber in dem entwurfe
weht so sehr ein geist, er ist so woldurchdacht und verbindet in so
eigentümlicher weise die drakontische verfassung mit den anforderungen
der gegenwart, ist auch so rasch zur annahme in der commission ge-
langt, dass wir wol schliessen dürfen, er habe für die leiter der bewe-
gung vorher festgestanden. wer ihn gemacht hat erstrebte keineswegs
eine oligarchische tyrannei (dunasteia, wie schon Platon sagt.)

Die neue bürgerschaft nahm den entwurf an; aber er konnte nicht
unmittelbar in kraft treten, dazu war er viel zu radikal, die not des
krieges zu dringend, und vor allem die verständigung mit dem heere
in Samos nötig. also musste man zu einem provisorium greifen.
und nun wagte sich die oligarchie schon minder verhüllt an das licht,
wenn sie auch noch immer geflissentlich den anschluss an die verfas-
sung der väter, die patria, zur schau trug, um die 5000 zur zustim-
mung zu bewegen. es ward wirlich eine behörde mit dictatorischer
gewalt geschaffen, aber dieser urkunde merkt man deutlich an, dass sie
auf einem compromiss beruht.

Als dieser rat der 400 am ruder war, gewannen in ihm die tyranni-
schen gelüste die oberhand, bis die gemässigte minorität selbst den ge-
horsam kündigte und die gewaltherrschaft brach. sie wollten dabei we-
nigstens die principien festhalten, die noch die alte weite ekklesia beschlossen
hatte, und zunächst gelang es auch. aber da das sehr bald auch im

II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.
schränkten sie sich zunächst darauf, zwei hauptprincipien durchzubringen,
die offenbar in sehr weiten kreisen beifall fanden, die ausschlieſsung
der theten von den politischen rechten, und die aufhebung des soldes.
beides konnte mit fug und recht als eine rückkehr zur väterlichen ver-
fassung bezeichnet werden. der sold war erst durch Perikles eingeführt,
und man war maſsvoll genug, ihn, wenn auch in der geringen höhe
von ½ dr., für den ratsausschuſs und die archonten bestehn zu lassen;
er war wol sicher in beiden fällen ersatz für ältere naturalverpflegung.
die beschränkung der politischen rechte auf die hopliten, d. h. die ὅπλα
παϱεχόμενοι, gieng allerdings über Solon hinaus, aber die formel selbst
war genau die drakontische, und da es mindestens 5000 sein sollten,
und die auswahl einer starken vertretung der phylen anheimgegeben
ward, so mochte der demos mit grund annehmen daſs diese neue bürger-
schaft nicht für die oligarchie zu haben sein würde. übrigens sollte sie
zunächst nur für die dauer des krieges bestehn.

Als sie ausgemustert war und zusammentrat, führten die oligarchen
den zweiten streich und setzten eine commission für den entwurf einer
verfassung durch. sie war zwar 100 leute stark, aber in dem entwurfe
weht so sehr ein geist, er ist so woldurchdacht und verbindet in so
eigentümlicher weise die drakontische verfassung mit den anforderungen
der gegenwart, ist auch so rasch zur annahme in der commission ge-
langt, daſs wir wol schlieſsen dürfen, er habe für die leiter der bewe-
gung vorher festgestanden. wer ihn gemacht hat erstrebte keineswegs
eine oligarchische tyrannei (δυναστεία, wie schon Platon sagt.)

Die neue bürgerschaft nahm den entwurf an; aber er konnte nicht
unmittelbar in kraft treten, dazu war er viel zu radikal, die not des
krieges zu dringend, und vor allem die verständigung mit dem heere
in Samos nötig. also muſste man zu einem provisorium greifen.
und nun wagte sich die oligarchie schon minder verhüllt an das licht,
wenn sie auch noch immer geflissentlich den anschluſs an die verfas-
sung der väter, die πάτϱια, zur schau trug, um die 5000 zur zustim-
mung zu bewegen. es ward wirlich eine behörde mit dictatorischer
gewalt geschaffen, aber dieser urkunde merkt man deutlich an, daſs sie
auf einem compromiſs beruht.

Als dieser rat der 400 am ruder war, gewannen in ihm die tyranni-
schen gelüste die oberhand, bis die gemäſsigte minorität selbst den ge-
horsam kündigte und die gewaltherrschaft brach. sie wollten dabei we-
nigstens die principien festhalten, die noch die alte weite ekklesia beschlossen
hatte, und zunächst gelang es auch. aber da das sehr bald auch im

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[114/0124] II. 4. Πάτϱιος πολιτεία. schränkten sie sich zunächst darauf, zwei hauptprincipien durchzubringen, die offenbar in sehr weiten kreisen beifall fanden, die ausschlieſsung der theten von den politischen rechten, und die aufhebung des soldes. beides konnte mit fug und recht als eine rückkehr zur väterlichen ver- fassung bezeichnet werden. der sold war erst durch Perikles eingeführt, und man war maſsvoll genug, ihn, wenn auch in der geringen höhe von ½ dr., für den ratsausschuſs und die archonten bestehn zu lassen; er war wol sicher in beiden fällen ersatz für ältere naturalverpflegung. die beschränkung der politischen rechte auf die hopliten, d. h. die ὅπλα παϱεχόμενοι, gieng allerdings über Solon hinaus, aber die formel selbst war genau die drakontische, und da es mindestens 5000 sein sollten, und die auswahl einer starken vertretung der phylen anheimgegeben ward, so mochte der demos mit grund annehmen daſs diese neue bürger- schaft nicht für die oligarchie zu haben sein würde. übrigens sollte sie zunächst nur für die dauer des krieges bestehn. Als sie ausgemustert war und zusammentrat, führten die oligarchen den zweiten streich und setzten eine commission für den entwurf einer verfassung durch. sie war zwar 100 leute stark, aber in dem entwurfe weht so sehr ein geist, er ist so woldurchdacht und verbindet in so eigentümlicher weise die drakontische verfassung mit den anforderungen der gegenwart, ist auch so rasch zur annahme in der commission ge- langt, daſs wir wol schlieſsen dürfen, er habe für die leiter der bewe- gung vorher festgestanden. wer ihn gemacht hat erstrebte keineswegs eine oligarchische tyrannei (δυναστεία, wie schon Platon sagt.) Die neue bürgerschaft nahm den entwurf an; aber er konnte nicht unmittelbar in kraft treten, dazu war er viel zu radikal, die not des krieges zu dringend, und vor allem die verständigung mit dem heere in Samos nötig. also muſste man zu einem provisorium greifen. und nun wagte sich die oligarchie schon minder verhüllt an das licht, wenn sie auch noch immer geflissentlich den anschluſs an die verfas- sung der väter, die πάτϱια, zur schau trug, um die 5000 zur zustim- mung zu bewegen. es ward wirlich eine behörde mit dictatorischer gewalt geschaffen, aber dieser urkunde merkt man deutlich an, daſs sie auf einem compromiſs beruht. Als dieser rat der 400 am ruder war, gewannen in ihm die tyranni- schen gelüste die oberhand, bis die gemäſsigte minorität selbst den ge- horsam kündigte und die gewaltherrschaft brach. sie wollten dabei we- nigstens die principien festhalten, die noch die alte weite ekklesia beschlossen hatte, und zunächst gelang es auch. aber da das sehr bald auch im

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/124>, abgerufen am 23.11.2024.