Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 8. Der Areopag von Ephialtes.
Arestempel lag, aber unmöglich kann die terminologie e boule e ex
Areiou pagou aufgekommen sein, ehe eine andere boule die unter-
scheidung nötig machte; die anrede o boule an den Areopag ist geblieben.
vordrakontische gesetze können, falls sie nicht das blutrecht angiengen,
unmöglich anders als einfach von der boule geredet haben. es ist nicht
wunderbar, dass man sie später verkannte und den Areopag vermisste.
die bezeichnung nach dem hügel ist in wahrheit secundär. da stehn
wir wieder vor einer alternative, entweder ist ein Arestempel errichtet,
wo das rathaus war, weil der rat über blut richtete, oder der rat hat
sich sein haus da gebaut, wo er über blut richten musste. auch hier
ist die entscheidung nicht zweifelhaft. die religion, die lithoi ubreos
kai anaideias, sind das ältere. das scheint dem blutgerichtshofe doch
das prius zu vindiciren. allein es scheint nur so. freilich ist der er-
satz der blutrache durch die strafe des staates ein ungemein wichtiger
schritt, und die gesellschaft hat die entscheidung nicht in die hand des
einzelnen, des königs, legen wollen, sondern ein gericht von standes-
genossen gefordert. die religion hat dieses gericht an bestimmte hei-
lige stätten gewiesen. aber zu einem ständigen gerichtshofe, zu einer
behörde, einer boule führt das nicht. wenn die boule in Athen dieses
wichtige gericht übernommen hat, so mag sie ihr amtslocal mit rück-
sicht auf eine gerichtsstätte gewählt haben, deren lage im verhältnis
zu den andern amtshäusern bequem war, aber sie war vorhanden und
angesehen, ehe die blutrache beseitigt ward. Agamemnon und Alkinoos
haben ihre boule bei Homer, bei dem doch von einem blutgerichte
nichts zu finden ist. der rat, der die magistratur durch seine euthyna
gebändigt hat, ist notwendiger weise eine so alte institution, dass wir
uns Athen ohne ihn gar nicht zu denken vermögen, so wenig wie Sparta
ohne die geronten. aber über seine zusammensetzung, ob durch beru-
fung des königs auf lebenszeit oder durch volkswahl oder durch ge-
schlechtervertretung, können wir nichts wissen. wenn er einstmals dem
könige zur seite getreten ist, wenn er die willkür der einzelnen be-
amten gebändigt hat, so ist er einstmals der träger des fortschritts zur
demokratie gewesen, die 462 in ihm ihren hemmschuh sah. er ist der
vorgänger des rates der 400 und 500 gewesen, seit wann? seit Kekrops:
wir haben keine andere antwort als die Atthis. was ihm nach 462
geblieben ist, entspricht dem was dem könige geblieben ist: wie der
könig nicht zuerst ein priester war, ist auch der rat nicht von anfang
ein religiöses tribunal gewesen.



II. 8. Der Areopag von Ephialtes.
Arestempel lag, aber unmöglich kann die terminologie ἡ βουλὴ ἡ ἐξ
Ἀϱείου πάγου aufgekommen sein, ehe eine andere βουλή die unter-
scheidung nötig machte; die anrede ὦ βουλή an den Areopag ist geblieben.
vordrakontische gesetze können, falls sie nicht das blutrecht angiengen,
unmöglich anders als einfach von der βουλή geredet haben. es ist nicht
wunderbar, daſs man sie später verkannte und den Areopag vermiſste.
die bezeichnung nach dem hügel ist in wahrheit secundär. da stehn
wir wieder vor einer alternative, entweder ist ein Arestempel errichtet,
wo das rathaus war, weil der rat über blut richtete, oder der rat hat
sich sein haus da gebaut, wo er über blut richten muſste. auch hier
ist die entscheidung nicht zweifelhaft. die religion, die λίϑοι ὕβϱεως
καὶ ἀναιδείας, sind das ältere. das scheint dem blutgerichtshofe doch
das prius zu vindiciren. allein es scheint nur so. freilich ist der er-
satz der blutrache durch die strafe des staates ein ungemein wichtiger
schritt, und die gesellschaft hat die entscheidung nicht in die hand des
einzelnen, des königs, legen wollen, sondern ein gericht von standes-
genossen gefordert. die religion hat dieses gericht an bestimmte hei-
lige stätten gewiesen. aber zu einem ständigen gerichtshofe, zu einer
behörde, einer βουλή führt das nicht. wenn die βουλή in Athen dieses
wichtige gericht übernommen hat, so mag sie ihr amtslocal mit rück-
sicht auf eine gerichtsstätte gewählt haben, deren lage im verhältnis
zu den andern amtshäusern bequem war, aber sie war vorhanden und
angesehen, ehe die blutrache beseitigt ward. Agamemnon und Alkinoos
haben ihre βουλή bei Homer, bei dem doch von einem blutgerichte
nichts zu finden ist. der rat, der die magistratur durch seine euthyna
gebändigt hat, ist notwendiger weise eine so alte institution, daſs wir
uns Athen ohne ihn gar nicht zu denken vermögen, so wenig wie Sparta
ohne die geronten. aber über seine zusammensetzung, ob durch beru-
fung des königs auf lebenszeit oder durch volkswahl oder durch ge-
schlechtervertretung, können wir nichts wissen. wenn er einstmals dem
könige zur seite getreten ist, wenn er die willkür der einzelnen be-
amten gebändigt hat, so ist er einstmals der träger des fortschritts zur
demokratie gewesen, die 462 in ihm ihren hemmschuh sah. er ist der
vorgänger des rates der 400 und 500 gewesen, seit wann? seit Kekrops:
wir haben keine andere antwort als die Atthis. was ihm nach 462
geblieben ist, entspricht dem was dem könige geblieben ist: wie der
könig nicht zuerst ein priester war, ist auch der rat nicht von anfang
ein religiöses tribunal gewesen.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0210" n="200"/><fw place="top" type="header">II. 8. Der Areopag von Ephialtes.</fw><lb/>
Arestempel lag, aber unmöglich kann die terminologie &#x1F21; &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x1F74; &#x1F21; &#x1F10;&#x03BE;<lb/>
&#x1F08;&#x03F1;&#x03B5;&#x03AF;&#x03BF;&#x03C5; &#x03C0;&#x03AC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C5; aufgekommen sein, ehe eine andere &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; die unter-<lb/>
scheidung nötig machte; die anrede &#x1F66; &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; an den Areopag ist geblieben.<lb/>
vordrakontische gesetze können, falls sie nicht das blutrecht angiengen,<lb/>
unmöglich anders als einfach von der &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; geredet haben. es ist nicht<lb/>
wunderbar, da&#x017F;s man sie später verkannte und den Areopag vermi&#x017F;ste.<lb/>
die bezeichnung nach dem hügel ist in wahrheit secundär. da stehn<lb/>
wir wieder vor einer alternative, entweder ist ein Arestempel errichtet,<lb/>
wo das rathaus war, weil der rat über blut richtete, oder der rat hat<lb/>
sich sein haus da gebaut, wo er über blut richten mu&#x017F;ste. auch hier<lb/>
ist die entscheidung nicht zweifelhaft. die religion, die &#x03BB;&#x03AF;&#x03D1;&#x03BF;&#x03B9; &#x1F55;&#x03B2;&#x03F1;&#x03B5;&#x03C9;&#x03C2;<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F00;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9;&#x03B4;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1;&#x03C2;, sind das ältere. das scheint dem blutgerichtshofe doch<lb/>
das prius zu vindiciren. allein es scheint nur so. freilich ist der er-<lb/>
satz der blutrache durch die strafe des staates ein ungemein wichtiger<lb/>
schritt, und die gesellschaft hat die entscheidung nicht in die hand des<lb/>
einzelnen, des königs, legen wollen, sondern ein gericht von standes-<lb/>
genossen gefordert. die religion hat dieses gericht an bestimmte hei-<lb/>
lige stätten gewiesen. aber zu einem ständigen gerichtshofe, zu einer<lb/>
behörde, einer &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; führt das nicht. wenn die &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; in Athen dieses<lb/>
wichtige gericht übernommen hat, so mag sie ihr amtslocal mit rück-<lb/>
sicht auf eine gerichtsstätte gewählt haben, deren lage im verhältnis<lb/>
zu den andern amtshäusern bequem war, aber sie war vorhanden und<lb/>
angesehen, ehe die blutrache beseitigt ward. Agamemnon und Alkinoos<lb/>
haben ihre &#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BB;&#x03AE; bei Homer, bei dem doch von einem blutgerichte<lb/>
nichts zu finden ist. der rat, der die magistratur durch seine euthyna<lb/>
gebändigt hat, ist notwendiger weise eine so alte institution, da&#x017F;s wir<lb/>
uns Athen ohne ihn gar nicht zu denken vermögen, so wenig wie Sparta<lb/>
ohne die geronten. aber über seine zusammensetzung, ob durch beru-<lb/>
fung des königs auf lebenszeit oder durch volkswahl oder durch ge-<lb/>
schlechtervertretung, können wir nichts wissen. wenn er einstmals dem<lb/>
könige zur seite getreten ist, wenn er die willkür der einzelnen be-<lb/>
amten gebändigt hat, so ist er einstmals der träger des fortschritts zur<lb/>
demokratie gewesen, die 462 in ihm ihren hemmschuh sah. er ist der<lb/>
vorgänger des rates der 400 und 500 gewesen, seit wann? seit Kekrops:<lb/>
wir haben keine andere antwort als die Atthis. was ihm nach 462<lb/>
geblieben ist, entspricht dem was dem könige geblieben ist: wie der<lb/>
könig nicht zuerst ein priester war, ist auch der rat nicht von anfang<lb/>
ein religiöses tribunal gewesen.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0210] II. 8. Der Areopag von Ephialtes. Arestempel lag, aber unmöglich kann die terminologie ἡ βουλὴ ἡ ἐξ Ἀϱείου πάγου aufgekommen sein, ehe eine andere βουλή die unter- scheidung nötig machte; die anrede ὦ βουλή an den Areopag ist geblieben. vordrakontische gesetze können, falls sie nicht das blutrecht angiengen, unmöglich anders als einfach von der βουλή geredet haben. es ist nicht wunderbar, daſs man sie später verkannte und den Areopag vermiſste. die bezeichnung nach dem hügel ist in wahrheit secundär. da stehn wir wieder vor einer alternative, entweder ist ein Arestempel errichtet, wo das rathaus war, weil der rat über blut richtete, oder der rat hat sich sein haus da gebaut, wo er über blut richten muſste. auch hier ist die entscheidung nicht zweifelhaft. die religion, die λίϑοι ὕβϱεως καὶ ἀναιδείας, sind das ältere. das scheint dem blutgerichtshofe doch das prius zu vindiciren. allein es scheint nur so. freilich ist der er- satz der blutrache durch die strafe des staates ein ungemein wichtiger schritt, und die gesellschaft hat die entscheidung nicht in die hand des einzelnen, des königs, legen wollen, sondern ein gericht von standes- genossen gefordert. die religion hat dieses gericht an bestimmte hei- lige stätten gewiesen. aber zu einem ständigen gerichtshofe, zu einer behörde, einer βουλή führt das nicht. wenn die βουλή in Athen dieses wichtige gericht übernommen hat, so mag sie ihr amtslocal mit rück- sicht auf eine gerichtsstätte gewählt haben, deren lage im verhältnis zu den andern amtshäusern bequem war, aber sie war vorhanden und angesehen, ehe die blutrache beseitigt ward. Agamemnon und Alkinoos haben ihre βουλή bei Homer, bei dem doch von einem blutgerichte nichts zu finden ist. der rat, der die magistratur durch seine euthyna gebändigt hat, ist notwendiger weise eine so alte institution, daſs wir uns Athen ohne ihn gar nicht zu denken vermögen, so wenig wie Sparta ohne die geronten. aber über seine zusammensetzung, ob durch beru- fung des königs auf lebenszeit oder durch volkswahl oder durch ge- schlechtervertretung, können wir nichts wissen. wenn er einstmals dem könige zur seite getreten ist, wenn er die willkür der einzelnen be- amten gebändigt hat, so ist er einstmals der träger des fortschritts zur demokratie gewesen, die 462 in ihm ihren hemmschuh sah. er ist der vorgänger des rates der 400 und 500 gewesen, seit wann? seit Kekrops: wir haben keine andere antwort als die Atthis. was ihm nach 462 geblieben ist, entspricht dem was dem könige geblieben ist: wie der könig nicht zuerst ein priester war, ist auch der rat nicht von anfang ein religiöses tribunal gewesen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/210
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/210>, abgerufen am 04.12.2024.