wir ihm danken, ist recht beträchtlich, und mühe hat er sich wirklich gegeben. diese anerkennung müssen wir ihm zollen. sein dickleibiges buch ist ein reservoir für die wertvollste ältere überlieferung geworden; eben darin ist die analogie zu den peripatetischen sammelarbeiten un- verkennbar. sie verhalten sich in ihrem werte zu einander wie Platon und Isokrates, wissenschaft und sophistik; der geist in ihnen ist also ein sehr verschiedener. aber darin stehen sie einander gleich, dass keine forschung im eigentlichen sinne darin ist. folglich setzt ihre zusammen- fassende tätigkeit mit zwingender notwendigkeit eine bedeutende litteratur voraus, die ihnen den stoff zur verfügung stellte.
Auf diese litteratur kommt es mir an, die hinter Ephoros und Ari-Die locale tradition stoteles steht, ganz in demselben verhältnis, wie es an der Atthis für den grössten teil der athenischen Politie nachgewiesen ist. diese litte- ratur kann aber meistens nur durch die qualität der berichte erkannt werden, und es kommt auch viel mehr auf die anerkennung vieler lo- caler überlieferungen an als auf die restitution bestimmter schriftwerke oder schriftsteller. gewiss freuen wir uns, wenn auch dieses einmal ge- lingt, aber die aussicht ist gering. es stehen zwar eine anzahl schrift- stellernamen zur verfügung, mehr fast aus dem fünften jahrhundert als aus dem vierten. aber die zeit von nicht wenigen ist unsicher, und die tradition selbst darf keinesweges nach der person oder zeit des zufällig benannten gewährsmannes abgeschätzt werden. die quellenkunde, die von den namen der schriftsteller ausgeht, ist genau so unfruchtbar wie die forschung nach dem alten epos, die bis vor wenig jahren die trockenen knochen Lesches und Arktinos benagte statt die heldensagen zu ver- folgen. es gilt also die locale überlieferung aufzusuchen und vorab anzuerkennen, dass diese vieler orten vor Ephoros und Aristoteles bereits einen litterarischen niederschlag gefunden hat. und wahrlich, wie hätte es anders sein sollen, als dass eine litterarisch so regsame zeit das vor- handene material an geschichtlicher tradition ausgenutzt hätte? in weiten kreisen mochte das minder interessiren; zu hause freute sich doch das volk an der aufzeichnung seiner eigenen geschichte. wer bezweifelt, dass jedes hellenische gemeinwesen ein reiches beet von sagen und novellen war? jahrhunderte lang hatten ihrer nur die einwohner selbst gewartet, ab und an ein dichter eine blüte gebrochen oder einige stauden in den grossen garten des epos, später auch des dramas ver- pflanzt: jetzt war die zeit der prosaischen litteratur gekommen, und gerade weil die hohe poesie verstummte, musste die bequeme form der localgeschichte sich des bunten stoffes bemächtigen. gewiss werden viele
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 2
Die Isokrateer. die locale tradition.
wir ihm danken, ist recht beträchtlich, und mühe hat er sich wirklich gegeben. diese anerkennung müssen wir ihm zollen. sein dickleibiges buch ist ein reservoir für die wertvollste ältere überlieferung geworden; eben darin ist die analogie zu den peripatetischen sammelarbeiten un- verkennbar. sie verhalten sich in ihrem werte zu einander wie Platon und Isokrates, wissenschaft und sophistik; der geist in ihnen ist also ein sehr verschiedener. aber darin stehen sie einander gleich, daſs keine forschung im eigentlichen sinne darin ist. folglich setzt ihre zusammen- fassende tätigkeit mit zwingender notwendigkeit eine bedeutende litteratur voraus, die ihnen den stoff zur verfügung stellte.
Auf diese litteratur kommt es mir an, die hinter Ephoros und Ari-Die locale tradition stoteles steht, ganz in demselben verhältnis, wie es an der Atthis für den gröſsten teil der athenischen Politie nachgewiesen ist. diese litte- ratur kann aber meistens nur durch die qualität der berichte erkannt werden, und es kommt auch viel mehr auf die anerkennung vieler lo- caler überlieferungen an als auf die restitution bestimmter schriftwerke oder schriftsteller. gewiſs freuen wir uns, wenn auch dieses einmal ge- lingt, aber die aussicht ist gering. es stehen zwar eine anzahl schrift- stellernamen zur verfügung, mehr fast aus dem fünften jahrhundert als aus dem vierten. aber die zeit von nicht wenigen ist unsicher, und die tradition selbst darf keinesweges nach der person oder zeit des zufällig benannten gewährsmannes abgeschätzt werden. die quellenkunde, die von den namen der schriftsteller ausgeht, ist genau so unfruchtbar wie die forschung nach dem alten epos, die bis vor wenig jahren die trockenen knochen Lesches und Arktinos benagte statt die heldensagen zu ver- folgen. es gilt also die locale überlieferung aufzusuchen und vorab anzuerkennen, daſs diese vieler orten vor Ephoros und Aristoteles bereits einen litterarischen niederschlag gefunden hat. und wahrlich, wie hätte es anders sein sollen, als daſs eine litterarisch so regsame zeit das vor- handene material an geschichtlicher tradition ausgenutzt hätte? in weiten kreisen mochte das minder interessiren; zu hause freute sich doch das volk an der aufzeichnung seiner eigenen geschichte. wer bezweifelt, daſs jedes hellenische gemeinwesen ein reiches beet von sagen und novellen war? jahrhunderte lang hatten ihrer nur die einwohner selbst gewartet, ab und an ein dichter eine blüte gebrochen oder einige stauden in den groſsen garten des epos, später auch des dramas ver- pflanzt: jetzt war die zeit der prosaischen litteratur gekommen, und gerade weil die hohe poesie verstummte, muſste die bequeme form der localgeschichte sich des bunten stoffes bemächtigen. gewiſs werden viele
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 2
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Die Isokrateer. die locale tradition.
wir ihm danken, ist recht beträchtlich, und mühe hat er sich wirklich
gegeben. diese anerkennung müssen wir ihm zollen. sein dickleibiges
buch ist ein reservoir für die wertvollste ältere überlieferung geworden;
eben darin ist die analogie zu den peripatetischen sammelarbeiten un-
verkennbar. sie verhalten sich in ihrem werte zu einander wie Platon
und Isokrates, wissenschaft und sophistik; der geist in ihnen ist also
ein sehr verschiedener. aber darin stehen sie einander gleich, daſs keine
forschung im eigentlichen sinne darin ist. folglich setzt ihre zusammen-
fassende tätigkeit mit zwingender notwendigkeit eine bedeutende litteratur
voraus, die ihnen den stoff zur verfügung stellte.
Auf diese litteratur kommt es mir an, die hinter Ephoros und Ari-
stoteles steht, ganz in demselben verhältnis, wie es an der Atthis für
den gröſsten teil der athenischen Politie nachgewiesen ist. diese litte-
ratur kann aber meistens nur durch die qualität der berichte erkannt
werden, und es kommt auch viel mehr auf die anerkennung vieler lo-
caler überlieferungen an als auf die restitution bestimmter schriftwerke
oder schriftsteller. gewiſs freuen wir uns, wenn auch dieses einmal ge-
lingt, aber die aussicht ist gering. es stehen zwar eine anzahl schrift-
stellernamen zur verfügung, mehr fast aus dem fünften jahrhundert als aus
dem vierten. aber die zeit von nicht wenigen ist unsicher, und die
tradition selbst darf keinesweges nach der person oder zeit des zufällig
benannten gewährsmannes abgeschätzt werden. die quellenkunde, die
von den namen der schriftsteller ausgeht, ist genau so unfruchtbar wie
die forschung nach dem alten epos, die bis vor wenig jahren die trockenen
knochen Lesches und Arktinos benagte statt die heldensagen zu ver-
folgen. es gilt also die locale überlieferung aufzusuchen und vorab
anzuerkennen, daſs diese vieler orten vor Ephoros und Aristoteles bereits
einen litterarischen niederschlag gefunden hat. und wahrlich, wie hätte
es anders sein sollen, als daſs eine litterarisch so regsame zeit das vor-
handene material an geschichtlicher tradition ausgenutzt hätte? in weiten
kreisen mochte das minder interessiren; zu hause freute sich doch das
volk an der aufzeichnung seiner eigenen geschichte. wer bezweifelt,
daſs jedes hellenische gemeinwesen ein reiches beet von sagen und
novellen war? jahrhunderte lang hatten ihrer nur die einwohner selbst
gewartet, ab und an ein dichter eine blüte gebrochen oder einige
stauden in den groſsen garten des epos, später auch des dramas ver-
pflanzt: jetzt war die zeit der prosaischen litteratur gekommen, und
gerade weil die hohe poesie verstummte, muſste die bequeme form der
localgeschichte sich des bunten stoffes bemächtigen. gewiſs werden viele
Die locale
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/27>, abgerufen am 16.07.2024.
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