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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der hymnus auf die Tugend.
dessen besitz (ou methexei) sie eudaimones werden, und dieses höchste
gut ist das höchste gute, das kalon. aber dann ist es nicht die Areta,
nach der sie streben; die Areta ist überhaupt nicht ausser ihnen, son-
dern in ihnen, und durch sie erstreben und erreichen sie, dass sie
agathoi und eudaimones werden. nicht um tugend zu erlangen, haben
die heroen ihr leben geopfert, sondern sie haben das leben das sie
lebten und den tod den sie starben der tugend geopfert die sie besassen.
das gedicht erscheint also in seiner ganzen conception widerspruchsvoll.
es heisst an einer anderen stelle, dass die heroen viel erduldeten, mit taten
jagend nach der dunamis der tugend (10). das ist ganz aristotelisch.
tas gar aretas lambanomen energesantes proteron osper kai epi
ton allon tekhnon a gar dei mathontas poiein, tauta poiountes
manthanomen (Eth. II 1103a). die tugend ist in der energie eher vor-
handen als in der dynamis. so weit ist es gut. aber eben da lernen
wir, dass die tugend keine dunamis ist, denn für die blosse potenz gibt
es keine moralische werturteile. die tugend ist eine exis, eine exis
proairetike en mesoteti ousa te pros emas. das ist die aristote-
lische definition. diese seine arete hat mit der des gedichtes nichts
zu tun; an sie kann man kein lied richten, sie ist keine göttin. also
auch hier zeigt sich, dass das gedicht keine voll befriedigende erklärung
zulässt. die Areta, die wirklich eine göttin ist, für die die heroen das
leben gelassen haben, weil sie nur so gewonnen werden kann, ist die
arete der Athener des fünften jahrhunderts: psukhen antirropa thentes
ellaxant areten. erst der tod, der heldentod, macht den aner agathos.
areiphatous gar theoi timosi kai anthropoi, sagt selbst Herakleitos.
so dachten sie damals, und diese arete ist freilich mehr als tugend; sie
lässt sich nicht mit einem worte übersetzen. die ehre des mannes ist
sie, die mit den ehren und dem erfolge nichts zu tun hat; die men-
schenwürde, die der götterhöhe nicht weicht; die treue bis in den tod
zugleich mit der krone des lebens. die Sokratik hat gewiss eben dadurch
möglich gemacht, eine religion zu sein, nicht bloss ein philosophisches
system, dass sie die sittlichen ideale des volkes nicht verleugnete, son-
dern steigerte verklärte vollendete; aber weil er die philosophie erst
wirklich zur wissenchaft machte, kam Aristoteles von der religion weiter
ab. hier nun griff er nach den formen der attischen poesie, den me-
trischen und den sprachlichen, er griff ebenso nach den formen und
vorstellungen, in welche die dichter seines volkes die sittlichen ideale
gefasst hatten. die conventionellen figuren der heroensage treten auf
wie in der lyrik, und die Areta wird zu der, für welche Achilleus

Der hymnus auf die Tugend.
dessen besitz (οὗ μεϑέξει) sie εὐδαίμονες werden, und dieses höchste
gut ist das höchste gute, das καλόν. aber dann ist es nicht die Areta,
nach der sie streben; die Areta ist überhaupt nicht auſser ihnen, son-
dern in ihnen, und durch sie erstreben und erreichen sie, daſs sie
ἀγαϑοί und εὐδαίμονες werden. nicht um tugend zu erlangen, haben
die heroen ihr leben geopfert, sondern sie haben das leben das sie
lebten und den tod den sie starben der tugend geopfert die sie besaſsen.
das gedicht erscheint also in seiner ganzen conception widerspruchsvoll.
es heiſst an einer anderen stelle, daſs die heroen viel erduldeten, mit taten
jagend nach der δύναμις der tugend (10). das ist ganz aristotelisch.
τὰς γὰϱ ἀϱετἀς λαμβάνομεν ἐνεϱγήσαντες πϱότεϱον ὥσπεϱ καὶ ἐπὶ
τῶν ἄλλων τεχνῶν ἃ γὰϱ δεῖ μαϑόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες
μανϑάνομεν (Eth. II 1103a). die tugend ist in der energie eher vor-
handen als in der dynamis. so weit ist es gut. aber eben da lernen
wir, daſs die tugend keine δύναμις ist, denn für die bloſse potenz gibt
es keine moralische werturteile. die tugend ist eine ἕξις, eine ἕξις
πϱοαιϱετικὴ ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πϱὸς ἡμᾶς. das ist die aristote-
lische definition. diese seine ἀϱετή hat mit der des gedichtes nichts
zu tun; an sie kann man kein lied richten, sie ist keine göttin. also
auch hier zeigt sich, daſs das gedicht keine voll befriedigende erklärung
zuläſst. die Areta, die wirklich eine göttin ist, für die die heroen das
leben gelassen haben, weil sie nur so gewonnen werden kann, ist die
ἀϱετή der Athener des fünften jahrhunderts: ψυχὴν ἀντίϱϱοπα ϑέντες
ἠλλάξαντ̕ ἀϱετήν. erst der tod, der heldentod, macht den ἀνὴϱ ἀγαϑός.
ἀϱηιφάτους γὰϱ ϑεοὶ τιμῶσι καὶ ἄνϑϱωποι, sagt selbst Herakleitos.
so dachten sie damals, und diese ἀϱετή ist freilich mehr als tugend; sie
läſst sich nicht mit einem worte übersetzen. die ehre des mannes ist
sie, die mit den ehren und dem erfolge nichts zu tun hat; die men-
schenwürde, die der götterhöhe nicht weicht; die treue bis in den tod
zugleich mit der krone des lebens. die Sokratik hat gewiſs eben dadurch
möglich gemacht, eine religion zu sein, nicht bloſs ein philosophisches
system, daſs sie die sittlichen ideale des volkes nicht verleugnete, son-
dern steigerte verklärte vollendete; aber weil er die philosophie erst
wirklich zur wissenchaft machte, kam Aristoteles von der religion weiter
ab. hier nun griff er nach den formen der attischen poesie, den me-
trischen und den sprachlichen, er griff ebenso nach den formen und
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[411/0421] Der hymnus auf die Tugend. dessen besitz (οὗ μεϑέξει) sie εὐδαίμονες werden, und dieses höchste gut ist das höchste gute, das καλόν. aber dann ist es nicht die Areta, nach der sie streben; die Areta ist überhaupt nicht auſser ihnen, son- dern in ihnen, und durch sie erstreben und erreichen sie, daſs sie ἀγαϑοί und εὐδαίμονες werden. nicht um tugend zu erlangen, haben die heroen ihr leben geopfert, sondern sie haben das leben das sie lebten und den tod den sie starben der tugend geopfert die sie besaſsen. das gedicht erscheint also in seiner ganzen conception widerspruchsvoll. es heiſst an einer anderen stelle, daſs die heroen viel erduldeten, mit taten jagend nach der δύναμις der tugend (10). das ist ganz aristotelisch. τὰς γὰϱ ἀϱετἀς λαμβάνομεν ἐνεϱγήσαντες πϱότεϱον ὥσπεϱ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων τεχνῶν ἃ γὰϱ δεῖ μαϑόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανϑάνομεν (Eth. II 1103a). die tugend ist in der energie eher vor- handen als in der dynamis. so weit ist es gut. aber eben da lernen wir, daſs die tugend keine δύναμις ist, denn für die bloſse potenz gibt es keine moralische werturteile. die tugend ist eine ἕξις, eine ἕξις πϱοαιϱετικὴ ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πϱὸς ἡμᾶς. das ist die aristote- lische definition. diese seine ἀϱετή hat mit der des gedichtes nichts zu tun; an sie kann man kein lied richten, sie ist keine göttin. also auch hier zeigt sich, daſs das gedicht keine voll befriedigende erklärung zuläſst. die Areta, die wirklich eine göttin ist, für die die heroen das leben gelassen haben, weil sie nur so gewonnen werden kann, ist die ἀϱετή der Athener des fünften jahrhunderts: ψυχὴν ἀντίϱϱοπα ϑέντες ἠλλάξαντ̕ ἀϱετήν. erst der tod, der heldentod, macht den ἀνὴϱ ἀγαϑός. ἀϱηιφάτους γὰϱ ϑεοὶ τιμῶσι καὶ ἄνϑϱωποι, sagt selbst Herakleitos. so dachten sie damals, und diese ἀϱετή ist freilich mehr als tugend; sie läſst sich nicht mit einem worte übersetzen. die ehre des mannes ist sie, die mit den ehren und dem erfolge nichts zu tun hat; die men- schenwürde, die der götterhöhe nicht weicht; die treue bis in den tod zugleich mit der krone des lebens. die Sokratik hat gewiſs eben dadurch möglich gemacht, eine religion zu sein, nicht bloſs ein philosophisches system, daſs sie die sittlichen ideale des volkes nicht verleugnete, son- dern steigerte verklärte vollendete; aber weil er die philosophie erst wirklich zur wissenchaft machte, kam Aristoteles von der religion weiter ab. hier nun griff er nach den formen der attischen poesie, den me- trischen und den sprachlichen, er griff ebenso nach den formen und vorstellungen, in welche die dichter seines volkes die sittlichen ideale gefaſst hatten. die conventionellen figuren der heroensage treten auf wie in der lyrik, und die Areta wird zu der, für welche Achilleus

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/421>, abgerufen am 26.11.2024.