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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
im gegensatz zu epos und drama braucht; sein eigner hymnus auf die
tugend ist solch ein dithyrambos. und wie er in seiner geltung der chor-
poesie pindarischer zeit gleich geworden ist, so auch in der art der auf-
führung durch geschulte musiker und tänzer, die, überall und nirgends
zu hause, sich in gilden zusammenschlossen, oft vermischt mit den schau-
spielern, die das gleiche nun auch anstrebten und bald erreichten 42).

So ist der bürgerchor ein intermezzo: er gehört nur in die erhabene
zeit des grossen Athens, mit dessen Reiche er verschwindet. tragödie aber
und dithyrambos stehen, was die aufführungsart anlangt, stets parallel.
vor Kleisthenes kann man sich's nicht anders denken, als dass dieselben
leute in beiden auftraten, und am hofe Hierons werden dieselben leute
die pindarischen gedichte und die tragischen lieder des Phrynichos und
Aischylos aufgeführt haben. überhaupt ist die wechselwirkung der beiden
dionysischen schwesterarten handgreiflich. es sind geschwister, kinder der-
selben mutter, des alten chorgesanges, aber unmöglich kann die tragödie
von diesem dithyrambos stammen. als attisches festlied ist er notorisch
jünger; was aber der pindarische dithyrambos mit der tragödie gemein-
sam hat, das liegt alles im gattungsbegriff; das was ihn zu einer beson-
deren art macht, die absonderlichen rhythmen und der mangel der respon-
sion, fehlt gerade der ältesten tragödie. endlich muss, wie eben bei der
komödie, der schluss auch hier gelten, dass die tragödie aus dem dithy-
rambos Athens nicht stammen kann, weil er neben ihr kräftig weiter
besteht. so kann es scheinen, dass Aristoteles uns doch auf einen holzweg
geführt habe. die herleitung aus dem dithyrambos heisst entweder gar

gesellt er ihm die nomoi zu, nennt aber als dichter für beides Timotheos und Phi-
loxenos. in den problemen (XIX 15) sagt er, die nomoi allein wären nicht antistro-
phisch: wodurch sie die alten dithyramben und z. b. auch das Deipnon des Philoxenos
umfassen. nun ist nomos 'weise' ein ganz indifferentes wort, und man mag sich
denken, dass man den weisen, die unter keine bestimmte art fielen, den namen der
gattung gelassen hat. indessen ist das ersichtlich nicht consequent geschehen und
für uns überhaupt keine unterscheidung möglich. da der charakter der poesie auf
jeden fall identisch ist, kommt auch nichts darauf an.
42) Im dritten jahrhundert fällt in der tat, wie die inschriften namentlich der
ionischen techniten lehren, dithyrambos komödie tragödie derselben gilde zu, und
auch dieselben leute treten in verschiedenen gattungen auf. doch war dies schon
im 4. jahrhundert wenigstens für komödie und tragödie regel, Aristot. polit. G 3. es
ist bedauerlich, dass wir nicht angeben können, wann statt aushebung aus der phyle
anwerbung durch den choregen getreten ist, mit andern worten, wann statt der
analogie des landdienstes die der flotte für die tragischen chöre begonnen hat. die
grammatiker wussten nur das allgemeine wie wir: schol. Hom. N 637 eos tinos
orkhounto oi eugeneis neoi en tais tragodiais.

Was ist eine attische tragödie?
im gegensatz zu epos und drama braucht; sein eigner hymnus auf die
tugend ist solch ein dithyrambos. und wie er in seiner geltung der chor-
poesie pindarischer zeit gleich geworden ist, so auch in der art der auf-
führung durch geschulte musiker und tänzer, die, überall und nirgends
zu hause, sich in gilden zusammenschlossen, oft vermischt mit den schau-
spielern, die das gleiche nun auch anstrebten und bald erreichten 42).

So ist der bürgerchor ein intermezzo: er gehört nur in die erhabene
zeit des groſsen Athens, mit dessen Reiche er verschwindet. tragödie aber
und dithyrambos stehen, was die aufführungsart anlangt, stets parallel.
vor Kleisthenes kann man sich’s nicht anders denken, als daſs dieselben
leute in beiden auftraten, und am hofe Hierons werden dieselben leute
die pindarischen gedichte und die tragischen lieder des Phrynichos und
Aischylos aufgeführt haben. überhaupt ist die wechselwirkung der beiden
dionysischen schwesterarten handgreiflich. es sind geschwister, kinder der-
selben mutter, des alten chorgesanges, aber unmöglich kann die tragödie
von diesem dithyrambos stammen. als attisches festlied ist er notorisch
jünger; was aber der pindarische dithyrambos mit der tragödie gemein-
sam hat, das liegt alles im gattungsbegriff; das was ihn zu einer beson-
deren art macht, die absonderlichen rhythmen und der mangel der respon-
sion, fehlt gerade der ältesten tragödie. endlich muſs, wie eben bei der
komödie, der schluſs auch hier gelten, daſs die tragödie aus dem dithy-
rambos Athens nicht stammen kann, weil er neben ihr kräftig weiter
besteht. so kann es scheinen, daſs Aristoteles uns doch auf einen holzweg
geführt habe. die herleitung aus dem dithyrambos heiſst entweder gar

gesellt er ihm die νόμοι zu, nennt aber als dichter für beides Timotheos und Phi-
loxenos. in den problemen (XIX 15) sagt er, die νόμοι allein wären nicht antistro-
phisch: wodurch sie die alten dithyramben und z. b. auch das Δεῖπνον des Philoxenos
umfassen. nun ist νόμος ‘weise’ ein ganz indifferentes wort, und man mag sich
denken, daſs man den weisen, die unter keine bestimmte art fielen, den namen der
gattung gelassen hat. indessen ist das ersichtlich nicht consequent geschehen und
für uns überhaupt keine unterscheidung möglich. da der charakter der poesie auf
jeden fall identisch ist, kommt auch nichts darauf an.
42) Im dritten jahrhundert fällt in der tat, wie die inschriften namentlich der
ionischen techniten lehren, dithyrambos komödie tragödie derselben gilde zu, und
auch dieselben leute treten in verschiedenen gattungen auf. doch war dies schon
im 4. jahrhundert wenigstens für komödie und tragödie regel, Aristot. polit. Γ 3. es
ist bedauerlich, daſs wir nicht angeben können, wann statt aushebung aus der phyle
anwerbung durch den choregen getreten ist, mit andern worten, wann statt der
analogie des landdienstes die der flotte für die tragischen chöre begonnen hat. die
grammatiker wuſsten nur das allgemeine wie wir: schol. Hom. N 637 ἕως τινὸς
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[80/0100] Was ist eine attische tragödie? im gegensatz zu epos und drama braucht; sein eigner hymnus auf die tugend ist solch ein dithyrambos. und wie er in seiner geltung der chor- poesie pindarischer zeit gleich geworden ist, so auch in der art der auf- führung durch geschulte musiker und tänzer, die, überall und nirgends zu hause, sich in gilden zusammenschlossen, oft vermischt mit den schau- spielern, die das gleiche nun auch anstrebten und bald erreichten 42). So ist der bürgerchor ein intermezzo: er gehört nur in die erhabene zeit des groſsen Athens, mit dessen Reiche er verschwindet. tragödie aber und dithyrambos stehen, was die aufführungsart anlangt, stets parallel. vor Kleisthenes kann man sich’s nicht anders denken, als daſs dieselben leute in beiden auftraten, und am hofe Hierons werden dieselben leute die pindarischen gedichte und die tragischen lieder des Phrynichos und Aischylos aufgeführt haben. überhaupt ist die wechselwirkung der beiden dionysischen schwesterarten handgreiflich. es sind geschwister, kinder der- selben mutter, des alten chorgesanges, aber unmöglich kann die tragödie von diesem dithyrambos stammen. als attisches festlied ist er notorisch jünger; was aber der pindarische dithyrambos mit der tragödie gemein- sam hat, das liegt alles im gattungsbegriff; das was ihn zu einer beson- deren art macht, die absonderlichen rhythmen und der mangel der respon- sion, fehlt gerade der ältesten tragödie. endlich muſs, wie eben bei der komödie, der schluſs auch hier gelten, daſs die tragödie aus dem dithy- rambos Athens nicht stammen kann, weil er neben ihr kräftig weiter besteht. so kann es scheinen, daſs Aristoteles uns doch auf einen holzweg geführt habe. die herleitung aus dem dithyrambos heiſst entweder gar 41) 42) Im dritten jahrhundert fällt in der tat, wie die inschriften namentlich der ionischen techniten lehren, dithyrambos komödie tragödie derselben gilde zu, und auch dieselben leute treten in verschiedenen gattungen auf. doch war dies schon im 4. jahrhundert wenigstens für komödie und tragödie regel, Aristot. polit. Γ 3. es ist bedauerlich, daſs wir nicht angeben können, wann statt aushebung aus der phyle anwerbung durch den choregen getreten ist, mit andern worten, wann statt der analogie des landdienstes die der flotte für die tragischen chöre begonnen hat. die grammatiker wuſsten nur das allgemeine wie wir: schol. Hom. N 637 ἕως τινὸς ὠρχοῦντο οἱ εὐγενεῖς νέοι ἐν ταῖς τραγῳδίαις. 41) gesellt er ihm die νόμοι zu, nennt aber als dichter für beides Timotheos und Phi- loxenos. in den problemen (XIX 15) sagt er, die νόμοι allein wären nicht antistro- phisch: wodurch sie die alten dithyramben und z. b. auch das Δεῖπνον des Philoxenos umfassen. nun ist νόμος ‘weise’ ein ganz indifferentes wort, und man mag sich denken, daſs man den weisen, die unter keine bestimmte art fielen, den namen der gattung gelassen hat. indessen ist das ersichtlich nicht consequent geschehen und für uns überhaupt keine unterscheidung möglich. da der charakter der poesie auf jeden fall identisch ist, kommt auch nichts darauf an.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/100>, abgerufen am 27.11.2024.