Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Phrynichos. Es war freilich ein weiter weg der entwickelung gewesen, von denPhrynichos. 57) Der bericht des Herodot (VI 21) erhält erst sinn, wenn man dessen psy-
chologische motivirung der strafe anamnesas oikea kaka fallen lässt und die sache rechtlich fasst. nach dem feste, am 21. elaphebolion (wenigstens später ist der tag fest), wird in dem heiligen bezirk sitzung des volkes gehalten, zunächst über die sachen des gottes, dann über die laufenden geschäfte. die verstösse gegen die fest- ordnung kann das volk an den rat zur aburteilung weiter geben, wie es mit Aristo- phanes wegen der Babylonier geschah, es kann aber selbst darüber erkennen, ob ein verstoss vorliegt, worauf die im gesetze vorgesehene euthuna fällig wird. so war es hier; die 1000 dr. die Phrynichos bezahlte, waren in einem paragraphen des nomos vorgesehen, os d an doke adikesai ton theon oder auch ton demon, euthu- nostho khiliasi drakhmesi. es ist kein richterlicher act, wie denn der beschluss medena khresthai to dramati eine verwaltungsbestimmung ist, es ist eine art epibole, welche nur so hoch sein kann, weil sie der souverän selbst auferlegt. es ist auch kein be- schluss, denn es ist kein probuleuma da. es ist ein act des souveränen willens, der aber dem volke durch specialgesetz für diesen fall zugesichert und umgrenzt ist. dass man in späterer zeit die sache an den rat überwies, ist begreiflich, da die formen dann die gewöhnlichen waren. aber formell ist an dem ältesten todes- urteil über ein litterarisches werk nichts auszusetzen, und der fall hat seine hohe staatsrechtliche bedeutung. das praecedens war schlimm; aber im grunde haben die überzeugungsstarken demokraten recht getan: die sentimentale beeinflussung der volksstimmung durch die selbstgesetzten vorsprecher der öffentlichen meinung war wirklich eine gefahr. nur lässt sie sich mit der censur nicht beschwören, wie Athen bald zu lernen gelegenheit gehabt hat. Phrynichos. Es war freilich ein weiter weg der entwickelung gewesen, von denPhrynichos. 57) Der bericht des Herodot (VI 21) erhält erst sinn, wenn man dessen psy-
chologische motivirung der strafe ἀναμνήσας οἰκῇα κακά fallen läſst und die sache rechtlich faſst. nach dem feste, am 21. elaphebolion (wenigstens später ist der tag fest), wird in dem heiligen bezirk sitzung des volkes gehalten, zunächst über die sachen des gottes, dann über die laufenden geschäfte. die verstöſse gegen die fest- ordnung kann das volk an den rat zur aburteilung weiter geben, wie es mit Aristo- phanes wegen der Babylonier geschah, es kann aber selbst darüber erkennen, ob ein verstoſs vorliegt, worauf die im gesetze vorgesehene εὔϑυνα fällig wird. so war es hier; die 1000 dr. die Phrynichos bezahlte, waren in einem paragraphen des νόμος vorgesehen, ὃς δ̕ ἂν δοκῇ ἀδικῆσαι τὸν ϑεόν oder auch τὸν δῆμον, εὐϑυ- νόσϑω χιλίασι δραχμῇσι. es ist kein richterlicher act, wie denn der beschluſs μηδένα χρῆσϑαι τῷ δράματι eine verwaltungsbestimmung ist, es ist eine art ἐπιβολή, welche nur so hoch sein kann, weil sie der souverän selbst auferlegt. es ist auch kein be- schluſs, denn es ist kein probuleuma da. es ist ein act des souveränen willens, der aber dem volke durch specialgesetz für diesen fall zugesichert und umgrenzt ist. daſs man in späterer zeit die sache an den rat überwies, ist begreiflich, da die formen dann die gewöhnlichen waren. aber formell ist an dem ältesten todes- urteil über ein litterarisches werk nichts auszusetzen, und der fall hat seine hohe staatsrechtliche bedeutung. das praecedens war schlimm; aber im grunde haben die überzeugungsstarken demokraten recht getan: die sentimentale beeinflussung der volksstimmung durch die selbstgesetzten vorsprecher der öffentlichen meinung war wirklich eine gefahr. nur läſst sie sich mit der censur nicht beschwören, wie Athen bald zu lernen gelegenheit gehabt hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0111" n="91"/> <fw place="top" type="header">Phrynichos.</fw><lb/> <p>Es war freilich ein weiter weg der entwickelung gewesen, von den<note place="right">Phrynichos.</note><lb/> ersten satyrtänzen bis zu diesem stücke zu gelangen, ein weiterer als<lb/> der zwischen diesem für uns ältesten denkmale der attischen tragödie bis<lb/> zu ihrer überreifen letzten gestalt, etwa der aulischen Iphigenie, liegt.<lb/> und es ist nicht möglich mehr als einen oder den andern schatten von<lb/> den ältesten erzeugnissen zu haschen, die sich auf die nachwelt erhalten<lb/> hatten. erst von dem älteren zeitgenossen des Aischylos, dem Athener<lb/> Phrynichos gelingt das; vermutlich weil er länger der alten weise treu<lb/> blieb. wenn er noch 476 die Phoenissen so anlegen konnte, daſs der<lb/> prolog, eine neuerung, die er also mitmachte, schon die niederlage von<lb/> Salamis in Susa verkündete, wenn dann der chor, Phoenikerinnen, also<lb/> wittwen der bei Salamis gefallenen schiffstruppen, in Susa auftrat, so ist<lb/> ersichtlich, daſs zwar für erzählung und für den reflex derselben, klage-<lb/> lieder und tänze, der breiteste raum da war, jedoch gar keiner für irgend<lb/> welche handlung. über zwanzig jahre früher, noch zur zeit des einen<lb/> schauspielers, hatte Phrynichos den fall Milets aufgeführt. das stück<lb/> war von dem volke durch besonderen beschluſs geächtet worden, also<lb/> können nicht nur wir, sondern konnte schon Herodotos, der diese tat-<lb/> sache erzählt, nichts genaueres davon wissen <note place="foot" n="57)">Der bericht des Herodot (VI 21) erhält erst sinn, wenn man dessen psy-<lb/> chologische motivirung der strafe ἀναμνήσας οἰκῇα κακά fallen läſst und die sache<lb/> rechtlich faſst. nach dem feste, am 21. elaphebolion (wenigstens später ist der tag<lb/> fest), wird in dem heiligen bezirk sitzung des volkes gehalten, zunächst über die<lb/> sachen des gottes, dann über die laufenden geschäfte. die verstöſse gegen die fest-<lb/> ordnung kann das volk an den rat zur aburteilung weiter geben, wie es mit Aristo-<lb/> phanes wegen der Babylonier geschah, es kann aber selbst darüber erkennen, ob<lb/> ein verstoſs vorliegt, worauf die im gesetze vorgesehene εὔϑυνα fällig wird. so<lb/> war es hier; 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Phrynichos.
Es war freilich ein weiter weg der entwickelung gewesen, von den
ersten satyrtänzen bis zu diesem stücke zu gelangen, ein weiterer als
der zwischen diesem für uns ältesten denkmale der attischen tragödie bis
zu ihrer überreifen letzten gestalt, etwa der aulischen Iphigenie, liegt.
und es ist nicht möglich mehr als einen oder den andern schatten von
den ältesten erzeugnissen zu haschen, die sich auf die nachwelt erhalten
hatten. erst von dem älteren zeitgenossen des Aischylos, dem Athener
Phrynichos gelingt das; vermutlich weil er länger der alten weise treu
blieb. wenn er noch 476 die Phoenissen so anlegen konnte, daſs der
prolog, eine neuerung, die er also mitmachte, schon die niederlage von
Salamis in Susa verkündete, wenn dann der chor, Phoenikerinnen, also
wittwen der bei Salamis gefallenen schiffstruppen, in Susa auftrat, so ist
ersichtlich, daſs zwar für erzählung und für den reflex derselben, klage-
lieder und tänze, der breiteste raum da war, jedoch gar keiner für irgend
welche handlung. über zwanzig jahre früher, noch zur zeit des einen
schauspielers, hatte Phrynichos den fall Milets aufgeführt. das stück
war von dem volke durch besonderen beschluſs geächtet worden, also
können nicht nur wir, sondern konnte schon Herodotos, der diese tat-
sache erzählt, nichts genaueres davon wissen 57). aber das ist unzweifel-
Phrynichos.
57) Der bericht des Herodot (VI 21) erhält erst sinn, wenn man dessen psy-
chologische motivirung der strafe ἀναμνήσας οἰκῇα κακά fallen läſst und die sache
rechtlich faſst. nach dem feste, am 21. elaphebolion (wenigstens später ist der tag
fest), wird in dem heiligen bezirk sitzung des volkes gehalten, zunächst über die
sachen des gottes, dann über die laufenden geschäfte. die verstöſse gegen die fest-
ordnung kann das volk an den rat zur aburteilung weiter geben, wie es mit Aristo-
phanes wegen der Babylonier geschah, es kann aber selbst darüber erkennen, ob
ein verstoſs vorliegt, worauf die im gesetze vorgesehene εὔϑυνα fällig wird. so
war es hier; die 1000 dr. die Phrynichos bezahlte, waren in einem paragraphen
des νόμος vorgesehen, ὃς δ̕ ἂν δοκῇ ἀδικῆσαι τὸν ϑεόν oder auch τὸν δῆμον, εὐϑυ-
νόσϑω χιλίασι δραχμῇσι. es ist kein richterlicher act, wie denn der beschluſs μηδένα
χρῆσϑαι τῷ δράματι eine verwaltungsbestimmung ist, es ist eine art ἐπιβολή, welche
nur so hoch sein kann, weil sie der souverän selbst auferlegt. es ist auch kein be-
schluſs, denn es ist kein probuleuma da. es ist ein act des souveränen willens,
der aber dem volke durch specialgesetz für diesen fall zugesichert und umgrenzt
ist. daſs man in späterer zeit die sache an den rat überwies, ist begreiflich, da
die formen dann die gewöhnlichen waren. aber formell ist an dem ältesten todes-
urteil über ein litterarisches werk nichts auszusetzen, und der fall hat seine hohe
staatsrechtliche bedeutung. das praecedens war schlimm; aber im grunde haben die
überzeugungsstarken demokraten recht getan: die sentimentale beeinflussung der
volksstimmung durch die selbstgesetzten vorsprecher der öffentlichen meinung war
wirklich eine gefahr. nur läſst sie sich mit der censur nicht beschwören, wie Athen
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