Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Die heldensage; ihr wesen. die verworrene masse der ordnende gedanke von schuld und strafe, vomendlichen siege der besseren sache oder auch der grösseren tüchtigkeit. das mag oft die apologie des erfolges oder doch der begehrlichkeit sein, und befriedigend ist diese wie jede teleologie nur für die von vorn herein zustimmenden. es muss der ordnende process deshalb immer von neuem begonnen werden, sobald die sittlichkeitsbegriffe, die erkenntnis des tat- sächlichen und das telos selbst sich verschoben haben. aber das geht in alle zeiten weiter. jede geschichtschreibung, die lebendig wirken will, muss den gott in der geschichte aufzeigen, mag sie nun Ahriman oder Ormuz, pronoia oder tukhe in ihr finden. Die sage wird aber mit nichten durch die geschichtlichen erinnerungen 61) Die sprüchwörter mit epilog (Haupt op. II 395 Crusius Anal. in paroemiogr. 73) sind bereits verkrüppelte erzählungen, und sie sind doch noch vollständiger als die nakte sentenz. es kann freilich das sprüchwort auch nur ein bild sein, 'kakou korakos kakon oon'. 'der apfel fällt nicht weit vom stamm': dann liegt darin das was das homerische gleichnis gibt (os ouk esti leousi kai andrasin orkia pista): und das fasst doch auch ein sinnliches einzelbild. was man töricht den gnomischen aorist nennt, ist in wahrheit das tempus der sage, welche das regelmässige als einzelnen fall auffasst und ausspricht. auch die gnome ist nur das residuum der erzählung des falles, in dem sie gesprochen ist. 'geld ist der mann' sagte der arme Aristodemos in Sparta (Alkaios 50. Pind. Isthm. 2). 'denk' an Admetos' wort und liebe die braven leute' (Praxilla 3). kai tode Phokulideo. auch an den sprüchen der sieben weisen ist der urheber mit nichten irrelevant. was wäre telos ora makrou biou ohne die novelle von Kroisos? wenn der kanon der pflichten des ritters in den Kheironos upothekai so gegeben wird, dass der grösste held von seinem und vieler anderer meister unter- wiesen wird, so nennen wir das eine einkleidung, und eine einkleidung nennen wir es, dass Platon Sokratikoi logoi dichtet. das trifft für uns zu: wir werden auf der dürren heide der abstraction von dem bösen geiste herumgeführt. in wahrheit ist das sagenhafte nicht kleid, sondern ist lebendiger leib; und die unverdorbene seele hat denn auch die grüne weide nicht aufgehört zu suchen. v. Wilamowitz I. 7
Die heldensage; ihr wesen. die verworrene masse der ordnende gedanke von schuld und strafe, vomendlichen siege der besseren sache oder auch der gröſseren tüchtigkeit. das mag oft die apologie des erfolges oder doch der begehrlichkeit sein, und befriedigend ist diese wie jede teleologie nur für die von vorn herein zustimmenden. es muſs der ordnende proceſs deshalb immer von neuem begonnen werden, sobald die sittlichkeitsbegriffe, die erkenntnis des tat- sächlichen und das τέλος selbst sich verschoben haben. aber das geht in alle zeiten weiter. jede geschichtschreibung, die lebendig wirken will, muſs den gott in der geschichte aufzeigen, mag sie nun Ahriman oder Ormuz, πρόνοια oder τύχη in ihr finden. Die sage wird aber mit nichten durch die geschichtlichen erinnerungen 61) Die sprüchwörter mit epilog (Haupt op. II 395 Crusius Anal. in paroemiogr. 73) sind bereits verkrüppelte erzählungen, und sie sind doch noch vollständiger als die nakte sentenz. es kann freilich das sprüchwort auch nur ein bild sein, ‘κακοῦ κόρακος κακὸν ᾠόν’. ‘der apfel fällt nicht weit vom stamm’: dann liegt darin das was das homerische gleichnis gibt (ὡς οὐκ ἔστι λέουσι καὶ ἀνδράσιν ὅρκια πιστά): und das faſst doch auch ein sinnliches einzelbild. was man töricht den gnomischen aorist nennt, ist in wahrheit das tempus der sage, welche das regelmäſsige als einzelnen fall auffaſst und ausspricht. auch die gnome ist nur das residuum der erzählung des falles, in dem sie gesprochen ist. ‘geld ist der mann’ sagte der arme Aristodemos in Sparta (Alkaios 50. Pind. Isthm. 2). ‘denk’ an Admetos’ wort und liebe die braven leute’ (Praxilla 3). καὶ τόδε Φωκυλίδεω. auch an den sprüchen der sieben weisen ist der urheber mit nichten irrelevant. was wäre τέλος ὅρα μακροῦ βίου ohne die novelle von Kroisos? wenn der kanon der pflichten des ritters in den Χείρωνος ὑποϑῆκαι so gegeben wird, daſs der gröſste held von seinem und vieler anderer meister unter- wiesen wird, so nennen wir das eine einkleidung, und eine einkleidung nennen wir es, daſs Platon Σωκρατικοὶ λόγοι dichtet. das trifft für uns zu: wir werden auf der dürren heide der abstraction von dem bösen geiste herumgeführt. in wahrheit ist das sagenhafte nicht kleid, sondern ist lebendiger leib; und die unverdorbene seele hat denn auch die grüne weide nicht aufgehört zu suchen. v. Wilamowitz I. 7
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0117" n="97"/><fw place="top" type="header">Die heldensage; ihr wesen.</fw><lb/> die verworrene masse der ordnende gedanke von schuld und strafe, vom<lb/> endlichen siege der besseren sache oder auch der gröſseren tüchtigkeit.<lb/> das mag oft die apologie des erfolges oder doch der begehrlichkeit sein,<lb/> und befriedigend ist diese wie jede teleologie nur für die von vorn herein<lb/> zustimmenden. es muſs der ordnende proceſs deshalb immer von neuem<lb/> begonnen werden, sobald die sittlichkeitsbegriffe, die erkenntnis des tat-<lb/> sächlichen und das τέλος selbst sich verschoben haben. aber das geht<lb/> in alle zeiten weiter. jede geschichtschreibung, die lebendig wirken will,<lb/> muſs den gott in der geschichte aufzeigen, mag sie nun Ahriman oder<lb/> Ormuz, πρόνοια oder τύχη in ihr finden.</p><lb/> <p>Die sage wird aber mit nichten durch die geschichtlichen erinnerungen<lb/> ausgefüllt. wie der rechtssatz ‘die rache ist mein, spricht der staat, ich<lb/> werde richten’ in einem paradigmatischen falle ausgesprochen wird, so<lb/> geschieht es mit den sittlichen erfahrungen und grundsätzen des volkes.<lb/> die sprüchwörter sind nach Aristoteles reste alter weisheit: sie sind in<lb/> der tat häufig nur der rest einer exemplificatorischen geschichte, eines<lb/> epiloges, den sie ja auch noch oftmals an sich tragen <note place="foot" n="61)">Die sprüchwörter mit epilog (Haupt op. II 395 Crusius <hi rendition="#i">Anal. in paroemiogr</hi>. 73)<lb/> sind bereits verkrüppelte erzählungen, und sie sind doch noch vollständiger als die<lb/> nakte sentenz. es kann freilich das sprüchwort auch nur ein bild sein, ‘κακοῦ κόρακος<lb/> κακὸν ᾠόν’. ‘der apfel fällt nicht weit vom stamm’: dann liegt darin das was das<lb/> homerische gleichnis gibt (ὡς οὐκ ἔστι λέουσι καὶ ἀνδράσιν ὅρκια πιστά): und das<lb/> faſst doch auch ein sinnliches einzelbild. was man töricht den gnomischen aorist nennt,<lb/> ist in wahrheit das tempus der sage, welche das regelmäſsige als einzelnen fall auffaſst<lb/> und ausspricht. auch die gnome ist nur das residuum der erzählung des falles, in<lb/> dem sie gesprochen ist. ‘geld ist der mann’ sagte der arme Aristodemos in Sparta<lb/> (Alkaios 50. Pind. Isthm. 2). ‘denk’ an Admetos’ wort und liebe die braven leute’<lb/> (Praxilla 3). καὶ τόδε Φωκυλίδεω. auch an den sprüchen der sieben weisen ist der<lb/> urheber mit nichten irrelevant. was wäre τέλος ὅρα μακροῦ βίου ohne die novelle<lb/> von Kroisos? wenn der kanon der pflichten des ritters in den Χείρωνος ὑποϑῆκαι<lb/> so gegeben wird, daſs der gröſste held von seinem und vieler anderer meister unter-<lb/> wiesen wird, so nennen wir das eine einkleidung, und eine einkleidung nennen wir<lb/> es, daſs Platon Σωκρατικοὶ λόγοι dichtet. das trifft für uns zu: wir werden auf<lb/> der dürren heide der abstraction von dem bösen geiste herumgeführt. in wahrheit<lb/> ist das sagenhafte nicht kleid, sondern ist lebendiger leib; und die unverdorbene seele<lb/> hat denn auch die grüne weide nicht aufgehört zu suchen.</note>. es verkehrt das<lb/> tatsächliche verhältnis, wenn man meint, die fabel wäre später als das<lb/> fabula docet. die moral ist der gehalt der fabel, aber dieser wird ursprüng-<lb/> lich nur in der form einer geschichte ausgesprochen, und die kahle sentenz<lb/> ist erst aus dieser abstrahirt. und gewonnen werden die moralischen sätze<lb/> zunächst auch aus der welt, den capiteln des buches, zu denen sie nur<lb/> die überschriften sind. ob die bäume oder die tiere, die götter oder die<lb/> <fw place="bottom" type="sig">v. Wilamowitz I. 7</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [97/0117]
Die heldensage; ihr wesen.
die verworrene masse der ordnende gedanke von schuld und strafe, vom
endlichen siege der besseren sache oder auch der gröſseren tüchtigkeit.
das mag oft die apologie des erfolges oder doch der begehrlichkeit sein,
und befriedigend ist diese wie jede teleologie nur für die von vorn herein
zustimmenden. es muſs der ordnende proceſs deshalb immer von neuem
begonnen werden, sobald die sittlichkeitsbegriffe, die erkenntnis des tat-
sächlichen und das τέλος selbst sich verschoben haben. aber das geht
in alle zeiten weiter. jede geschichtschreibung, die lebendig wirken will,
muſs den gott in der geschichte aufzeigen, mag sie nun Ahriman oder
Ormuz, πρόνοια oder τύχη in ihr finden.
Die sage wird aber mit nichten durch die geschichtlichen erinnerungen
ausgefüllt. wie der rechtssatz ‘die rache ist mein, spricht der staat, ich
werde richten’ in einem paradigmatischen falle ausgesprochen wird, so
geschieht es mit den sittlichen erfahrungen und grundsätzen des volkes.
die sprüchwörter sind nach Aristoteles reste alter weisheit: sie sind in
der tat häufig nur der rest einer exemplificatorischen geschichte, eines
epiloges, den sie ja auch noch oftmals an sich tragen 61). es verkehrt das
tatsächliche verhältnis, wenn man meint, die fabel wäre später als das
fabula docet. die moral ist der gehalt der fabel, aber dieser wird ursprüng-
lich nur in der form einer geschichte ausgesprochen, und die kahle sentenz
ist erst aus dieser abstrahirt. und gewonnen werden die moralischen sätze
zunächst auch aus der welt, den capiteln des buches, zu denen sie nur
die überschriften sind. ob die bäume oder die tiere, die götter oder die
61) Die sprüchwörter mit epilog (Haupt op. II 395 Crusius Anal. in paroemiogr. 73)
sind bereits verkrüppelte erzählungen, und sie sind doch noch vollständiger als die
nakte sentenz. es kann freilich das sprüchwort auch nur ein bild sein, ‘κακοῦ κόρακος
κακὸν ᾠόν’. ‘der apfel fällt nicht weit vom stamm’: dann liegt darin das was das
homerische gleichnis gibt (ὡς οὐκ ἔστι λέουσι καὶ ἀνδράσιν ὅρκια πιστά): und das
faſst doch auch ein sinnliches einzelbild. was man töricht den gnomischen aorist nennt,
ist in wahrheit das tempus der sage, welche das regelmäſsige als einzelnen fall auffaſst
und ausspricht. auch die gnome ist nur das residuum der erzählung des falles, in
dem sie gesprochen ist. ‘geld ist der mann’ sagte der arme Aristodemos in Sparta
(Alkaios 50. Pind. Isthm. 2). ‘denk’ an Admetos’ wort und liebe die braven leute’
(Praxilla 3). καὶ τόδε Φωκυλίδεω. auch an den sprüchen der sieben weisen ist der
urheber mit nichten irrelevant. was wäre τέλος ὅρα μακροῦ βίου ohne die novelle
von Kroisos? wenn der kanon der pflichten des ritters in den Χείρωνος ὑποϑῆκαι
so gegeben wird, daſs der gröſste held von seinem und vieler anderer meister unter-
wiesen wird, so nennen wir das eine einkleidung, und eine einkleidung nennen wir
es, daſs Platon Σωκρατικοὶ λόγοι dichtet. das trifft für uns zu: wir werden auf
der dürren heide der abstraction von dem bösen geiste herumgeführt. in wahrheit
ist das sagenhafte nicht kleid, sondern ist lebendiger leib; und die unverdorbene seele
hat denn auch die grüne weide nicht aufgehört zu suchen.
v. Wilamowitz I. 7
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |