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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
zeit waren in der tat neue. die alexandrinische bibliothek, die grundlage
der dortigen philologie, war vernichtet. Alexandreia hörte auf residenz zu
sein und verlor die leitende stellung in den geisteswissenschaften. auch
die grammatik musste sich in Rom eingewöhnen. hier lagen die ver-
hältnisse anders. ein wissenschaftliches institut wie das Museion fehlte;
die esoterische lehre des meisters, der schülern, die wieder gelehrte
werden wollten, seine weisheit vortrug, hatte keine stätte mehr; wissen-
schaftlicher betrieb, wie ihn Aristarch geübt hatte, war unmöglich, denn
wenn das auditorium fehlte, das sich die kritischen zeichen erläutern liess,
so fehlte auch für die detailbehandlung der aristarchischen hypomnemata
das publicum: es sei denn dass man sich auf den engsten kreis der zunst
beschränken wollte, wie es Probus seiner zeit getan hat 86a), vielleicht der
einzige wirkliche philologe, den die Römer hervorgebracht haben. so mögen
es auch von den Griechen die besten, wie Aristonikos, gehalten haben. die
sprachwissenschaft ist ihrer natur nach auf engere fachkreise angewiesen.
doch empfand jetzt jeder stärker das bedürfnis, die sprache theoretisch zu
erfassen, der als grammatiker sein brot verdienen wollte; denn viel mehr
als früher musste er die sprache selbst lehren. so erhielten diese studien in
Tryphon einen bedeutenden 87), daneben in anderen leuten wie dem Aska-
loniten Ptolemaios immerhin unverächtliche vertreter, im publicum aber
waren die, welche für die classische poesie interesse hatten und kenntnis
von ihr nehmen wollten, nicht weniger, sondern viel zahlreicher geworden,
und entsprechend bedurften sie stärkerer beihilfe. die aristophanischen
texte genügten dafür längst nicht mehr. auch um 200 v. Chr. werden
die s. g. gebildeten vieles im Sophokles nicht verstanden haben, aber
sie bildeten sich's doch ein und würden eine erklärende ausgabe weg-
geworfen haben, wie jetzt die s. g. gebildeten den anspruch erheben
Schillers gedichte zu verstehen und sich entrüsten, wenn sie ihnen
einer erklären will. in der augusteischen zeit, wo die rhetoren einge-
standen, dass sie zum Thukydides ein lexikon und einen commentar
brauchten, hatte sich das geändert, zum teil wirklich deshalb, weil die
welt aus dem zeichen des barocco in das des classicismus getreten war,

86a) Sueton de gram. 24: hic non tam discipulos quam sectatores aliquot
habuit, numquam enim ita docuit ut magistri personam sustineret
u. s. w.
87) Tryphon wird auch in der lexikographie noch eine grosse rolle spielen,
genauer geredet, er ist ein hauptautor für die späteren onomastica. da er zugleich
mit vorliebe von Herodian ausgeschrieben und compilirt wird, bietet ein aufsuchen
seiner reste gute chancen: denn die sorgfältige arbeit von Velsen gibt nur die nament-
lichen citate.

Geschichte des tragikertextes.
zeit waren in der tat neue. die alexandrinische bibliothek, die grundlage
der dortigen philologie, war vernichtet. Alexandreia hörte auf residenz zu
sein und verlor die leitende stellung in den geisteswissenschaften. auch
die grammatik muſste sich in Rom eingewöhnen. hier lagen die ver-
hältnisse anders. ein wissenschaftliches institut wie das Museion fehlte;
die esoterische lehre des meisters, der schülern, die wieder gelehrte
werden wollten, seine weisheit vortrug, hatte keine stätte mehr; wissen-
schaftlicher betrieb, wie ihn Aristarch geübt hatte, war unmöglich, denn
wenn das auditorium fehlte, das sich die kritischen zeichen erläutern lieſs,
so fehlte auch für die detailbehandlung der aristarchischen hypomnemata
das publicum: es sei denn daſs man sich auf den engsten kreis der zunst
beschränken wollte, wie es Probus seiner zeit getan hat 86a), vielleicht der
einzige wirkliche philologe, den die Römer hervorgebracht haben. so mögen
es auch von den Griechen die besten, wie Aristonikos, gehalten haben. die
sprachwissenschaft ist ihrer natur nach auf engere fachkreise angewiesen.
doch empfand jetzt jeder stärker das bedürfnis, die sprache theoretisch zu
erfassen, der als grammatiker sein brot verdienen wollte; denn viel mehr
als früher muſste er die sprache selbst lehren. so erhielten diese studien in
Tryphon einen bedeutenden 87), daneben in anderen leuten wie dem Aska-
loniten Ptolemaios immerhin unverächtliche vertreter, im publicum aber
waren die, welche für die classische poesie interesse hatten und kenntnis
von ihr nehmen wollten, nicht weniger, sondern viel zahlreicher geworden,
und entsprechend bedurften sie stärkerer beihilfe. die aristophanischen
texte genügten dafür längst nicht mehr. auch um 200 v. Chr. werden
die s. g. gebildeten vieles im Sophokles nicht verstanden haben, aber
sie bildeten sich’s doch ein und würden eine erklärende ausgabe weg-
geworfen haben, wie jetzt die s. g. gebildeten den anspruch erheben
Schillers gedichte zu verstehen und sich entrüsten, wenn sie ihnen
einer erklären will. in der augusteischen zeit, wo die rhetoren einge-
standen, daſs sie zum Thukydides ein lexikon und einen commentar
brauchten, hatte sich das geändert, zum teil wirklich deshalb, weil die
welt aus dem zeichen des barocco in das des classicismus getreten war,

86a) Sueton de gram. 24: hic non tam discipulos quam sectatores aliquot
habuit, numquam enim ita docuit ut magistri personam sustineret
u. s. w.
87) Tryphon wird auch in der lexikographie noch eine groſse rolle spielen,
genauer geredet, er ist ein hauptautor für die späteren onomastica. da er zugleich
mit vorliebe von Herodian ausgeschrieben und compilirt wird, bietet ein aufsuchen
seiner reste gute chancen: denn die sorgfältige arbeit von Velsen gibt nur die nament-
lichen citate.
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[162/0182] Geschichte des tragikertextes. zeit waren in der tat neue. die alexandrinische bibliothek, die grundlage der dortigen philologie, war vernichtet. Alexandreia hörte auf residenz zu sein und verlor die leitende stellung in den geisteswissenschaften. auch die grammatik muſste sich in Rom eingewöhnen. hier lagen die ver- hältnisse anders. ein wissenschaftliches institut wie das Museion fehlte; die esoterische lehre des meisters, der schülern, die wieder gelehrte werden wollten, seine weisheit vortrug, hatte keine stätte mehr; wissen- schaftlicher betrieb, wie ihn Aristarch geübt hatte, war unmöglich, denn wenn das auditorium fehlte, das sich die kritischen zeichen erläutern lieſs, so fehlte auch für die detailbehandlung der aristarchischen hypomnemata das publicum: es sei denn daſs man sich auf den engsten kreis der zunst beschränken wollte, wie es Probus seiner zeit getan hat 86a), vielleicht der einzige wirkliche philologe, den die Römer hervorgebracht haben. so mögen es auch von den Griechen die besten, wie Aristonikos, gehalten haben. die sprachwissenschaft ist ihrer natur nach auf engere fachkreise angewiesen. doch empfand jetzt jeder stärker das bedürfnis, die sprache theoretisch zu erfassen, der als grammatiker sein brot verdienen wollte; denn viel mehr als früher muſste er die sprache selbst lehren. so erhielten diese studien in Tryphon einen bedeutenden 87), daneben in anderen leuten wie dem Aska- loniten Ptolemaios immerhin unverächtliche vertreter, im publicum aber waren die, welche für die classische poesie interesse hatten und kenntnis von ihr nehmen wollten, nicht weniger, sondern viel zahlreicher geworden, und entsprechend bedurften sie stärkerer beihilfe. die aristophanischen texte genügten dafür längst nicht mehr. auch um 200 v. Chr. werden die s. g. gebildeten vieles im Sophokles nicht verstanden haben, aber sie bildeten sich’s doch ein und würden eine erklärende ausgabe weg- geworfen haben, wie jetzt die s. g. gebildeten den anspruch erheben Schillers gedichte zu verstehen und sich entrüsten, wenn sie ihnen einer erklären will. in der augusteischen zeit, wo die rhetoren einge- standen, daſs sie zum Thukydides ein lexikon und einen commentar brauchten, hatte sich das geändert, zum teil wirklich deshalb, weil die welt aus dem zeichen des barocco in das des classicismus getreten war, 86a) Sueton de gram. 24: hic non tam discipulos quam sectatores aliquot habuit, numquam enim ita docuit ut magistri personam sustineret u. s. w. 87) Tryphon wird auch in der lexikographie noch eine groſse rolle spielen, genauer geredet, er ist ein hauptautor für die späteren onomastica. da er zugleich mit vorliebe von Herodian ausgeschrieben und compilirt wird, bietet ein aufsuchen seiner reste gute chancen: denn die sorgfältige arbeit von Velsen gibt nur die nament- lichen citate.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/182>, abgerufen am 24.11.2024.