Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr. der kaiser frieden und gesundheit nicht wiedergeben können, und erselbst täuschte sich am wenigsten darüber, dass die sittlichen kräfte einer regeneration bedurft hätten, damit die blüte nicht eine taube bliebe. der staatliche notbau den er errichtete, die gesellschaftsordnung die er be- gründete, haben freilich vorgehalten, doch nur in der weise, dass sie wider seinen willen auf etwas gänzlich dem Hellenen wie Italiker fremdes hin sich entwickelten, auf den beamtenstaat eines absoluten fürsten. das war der staat der Ptolemaeer und Seleukiden nur für die barbaren gewesen: nun wird die welt durch diese staatsform allmählich barbarisirt. für barbaren- herzen sind die ideale Ioniens und Athens zu hoch. keinesweges erst Dio- cletian, sondern schon Septimius Severus vollendet die barbarisirung der welt. und besiegelt ist ihr geschick schon durch Hadrian. das zweite jahr- hundert, das sich selber und noch einem manne wie Gibbon das goldene zeitalter war, ist die zeit des todes für die antike welt. wol prangt diese zeit noch in gleissenden farben: aber was ist sie anders als ein getünchtes grab? wie spreizen sie sich, die stimmführer dieser selbstvergötterten civilisation, die Aristides und Lukian, Favorin und Apuleius, Herodes und Fronto -- aussen schminke, drinnen moder. was hilft's dass diese zeit von allgemeiner bildung trieft, vor der kein lykisches bergtal und keine africanische landstadt sicher ist, dass die reichspost von Lissabon bis Palmyra geht, kunststrassen und wasserleitungen gebaut werden, stil- volle kirchen und villen, statuen im geschmacke Thutmosis III oder Nebu- kadnezar oder Peisistratos, und Euriposse und Kanoposse und Mauso- leen? der geist ist es allein der lebt und leben schafft: der geist aber lässt sein nicht spotten. und viel schlimmer und barbarischer als die zeiten, in denen er noch nicht erwacht ist, sind die, wo er verflogen ist und erheuchelt werden soll. Vielleicht das fürchterlichste in solchen zeiten ist, dass das gute selbst Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr. der kaiser frieden und gesundheit nicht wiedergeben können, und erselbst täuschte sich am wenigsten darüber, daſs die sittlichen kräfte einer regeneration bedurft hätten, damit die blüte nicht eine taube bliebe. der staatliche notbau den er errichtete, die gesellschaftsordnung die er be- gründete, haben freilich vorgehalten, doch nur in der weise, daſs sie wider seinen willen auf etwas gänzlich dem Hellenen wie Italiker fremdes hin sich entwickelten, auf den beamtenstaat eines absoluten fürsten. das war der staat der Ptolemaeer und Seleukiden nur für die barbaren gewesen: nun wird die welt durch diese staatsform allmählich barbarisirt. für barbaren- herzen sind die ideale Ioniens und Athens zu hoch. keinesweges erst Dio- cletian, sondern schon Septimius Severus vollendet die barbarisirung der welt. und besiegelt ist ihr geschick schon durch Hadrian. das zweite jahr- hundert, das sich selber und noch einem manne wie Gibbon das goldene zeitalter war, ist die zeit des todes für die antike welt. wol prangt diese zeit noch in gleiſsenden farben: aber was ist sie anders als ein getünchtes grab? wie spreizen sie sich, die stimmführer dieser selbstvergötterten civilisation, die Aristides und Lukian, Favorin und Apuleius, Herodes und Fronto — auſsen schminke, drinnen moder. was hilft’s daſs diese zeit von allgemeiner bildung trieft, vor der kein lykisches bergtal und keine africanische landstadt sicher ist, daſs die reichspost von Lissabon bis Palmyra geht, kunststraſsen und wasserleitungen gebaut werden, stil- volle kirchen und villen, statuen im geschmacke Thutmosis III oder Nebu- kadnezar oder Peisistratos, und Euriposse und Kanoposse und Mauso- leen? der geist ist es allein der lebt und leben schafft: der geist aber läſst sein nicht spotten. und viel schlimmer und barbarischer als die zeiten, in denen er noch nicht erwacht ist, sind die, wo er verflogen ist und erheuchelt werden soll. Vielleicht das fürchterlichste in solchen zeiten ist, daſs das gute selbst <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0195" n="175"/><fw place="top" type="header">Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.</fw><lb/> der kaiser frieden und gesundheit nicht wiedergeben können, und er<lb/> selbst täuschte sich am wenigsten darüber, daſs die sittlichen kräfte einer<lb/> regeneration bedurft hätten, damit die blüte nicht eine taube bliebe. der<lb/> staatliche notbau den er errichtete, die gesellschaftsordnung die er be-<lb/> gründete, haben freilich vorgehalten, doch nur in der weise, daſs sie wider<lb/> seinen willen auf etwas gänzlich dem Hellenen wie Italiker fremdes hin sich<lb/> entwickelten, auf den beamtenstaat eines absoluten fürsten. das war der<lb/> staat der Ptolemaeer und Seleukiden nur für die barbaren gewesen: nun<lb/> wird die welt durch diese staatsform allmählich barbarisirt. für barbaren-<lb/> herzen sind die ideale Ioniens und Athens zu hoch. keinesweges erst Dio-<lb/> cletian, sondern schon Septimius Severus vollendet die barbarisirung der<lb/> welt. und besiegelt ist ihr geschick schon durch Hadrian. das zweite jahr-<lb/> hundert, das sich selber und noch einem manne wie Gibbon das goldene<lb/> zeitalter war, ist die zeit des todes für die antike welt. wol prangt diese<lb/> zeit noch in gleiſsenden farben: aber was ist sie anders als ein getünchtes<lb/> grab? wie spreizen sie sich, die stimmführer dieser selbstvergötterten<lb/> civilisation, die Aristides und Lukian, Favorin und Apuleius, Herodes<lb/> und Fronto — auſsen schminke, drinnen moder. was hilft’s daſs diese<lb/> zeit von allgemeiner bildung trieft, vor der kein lykisches bergtal und<lb/> keine africanische landstadt sicher ist, daſs die reichspost von Lissabon<lb/> bis Palmyra geht, kunststraſsen und wasserleitungen gebaut werden, stil-<lb/> volle kirchen und villen, statuen im geschmacke Thutmosis III oder Nebu-<lb/> kadnezar oder Peisistratos, und Euriposse und Kanoposse und Mauso-<lb/> leen? der geist ist es allein der lebt und leben schafft: der geist aber<lb/> läſst sein nicht spotten. und viel schlimmer und barbarischer als die<lb/> zeiten, in denen er noch nicht erwacht ist, sind die, wo er verflogen ist<lb/> und erheuchelt werden soll.</p><lb/> <p>Vielleicht das fürchterlichste in solchen zeiten ist, daſs das gute selbst<lb/> nur eine kraft wird, die das böse schafft. der classicismus der augus-<lb/> teischen zeit hatte in edelstem streben die echten ideale hoch aufgerichtet<lb/> und den menschen geboten, im glauben an sie sich selbst zu erheben.<lb/> nun war er mode geworden, die journalisten hatten sich seiner bemächtigt,<lb/> die schulmeister handelten mit ihm: was die halbgebildeten anfassen, das<lb/> schneiden sie sich nach der dürftigkeit ihrer eigenen leistungsfähigkeit<lb/> zu. statt den idealen innerlich sich zu nahen, wollte man sie kurzerhand<lb/> haschen und betasten. statt andächtig sich der pracht der sterne zu freuen,<lb/> begehrte man sie zu fassen, herunter zu holen und ihr gold zu eignem<lb/> gebrauche auszumünzen. der atticismus trieb die studien der alten litte-<lb/> ratur lediglich um selbst so schön zu schreiben und zu reden wie die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [175/0195]
Verfall der cultur im 2. jahrhundert n. Chr.
der kaiser frieden und gesundheit nicht wiedergeben können, und er
selbst täuschte sich am wenigsten darüber, daſs die sittlichen kräfte einer
regeneration bedurft hätten, damit die blüte nicht eine taube bliebe. der
staatliche notbau den er errichtete, die gesellschaftsordnung die er be-
gründete, haben freilich vorgehalten, doch nur in der weise, daſs sie wider
seinen willen auf etwas gänzlich dem Hellenen wie Italiker fremdes hin sich
entwickelten, auf den beamtenstaat eines absoluten fürsten. das war der
staat der Ptolemaeer und Seleukiden nur für die barbaren gewesen: nun
wird die welt durch diese staatsform allmählich barbarisirt. für barbaren-
herzen sind die ideale Ioniens und Athens zu hoch. keinesweges erst Dio-
cletian, sondern schon Septimius Severus vollendet die barbarisirung der
welt. und besiegelt ist ihr geschick schon durch Hadrian. das zweite jahr-
hundert, das sich selber und noch einem manne wie Gibbon das goldene
zeitalter war, ist die zeit des todes für die antike welt. wol prangt diese
zeit noch in gleiſsenden farben: aber was ist sie anders als ein getünchtes
grab? wie spreizen sie sich, die stimmführer dieser selbstvergötterten
civilisation, die Aristides und Lukian, Favorin und Apuleius, Herodes
und Fronto — auſsen schminke, drinnen moder. was hilft’s daſs diese
zeit von allgemeiner bildung trieft, vor der kein lykisches bergtal und
keine africanische landstadt sicher ist, daſs die reichspost von Lissabon
bis Palmyra geht, kunststraſsen und wasserleitungen gebaut werden, stil-
volle kirchen und villen, statuen im geschmacke Thutmosis III oder Nebu-
kadnezar oder Peisistratos, und Euriposse und Kanoposse und Mauso-
leen? der geist ist es allein der lebt und leben schafft: der geist aber
läſst sein nicht spotten. und viel schlimmer und barbarischer als die
zeiten, in denen er noch nicht erwacht ist, sind die, wo er verflogen ist
und erheuchelt werden soll.
Vielleicht das fürchterlichste in solchen zeiten ist, daſs das gute selbst
nur eine kraft wird, die das böse schafft. der classicismus der augus-
teischen zeit hatte in edelstem streben die echten ideale hoch aufgerichtet
und den menschen geboten, im glauben an sie sich selbst zu erheben.
nun war er mode geworden, die journalisten hatten sich seiner bemächtigt,
die schulmeister handelten mit ihm: was die halbgebildeten anfassen, das
schneiden sie sich nach der dürftigkeit ihrer eigenen leistungsfähigkeit
zu. statt den idealen innerlich sich zu nahen, wollte man sie kurzerhand
haschen und betasten. statt andächtig sich der pracht der sterne zu freuen,
begehrte man sie zu fassen, herunter zu holen und ihr gold zu eignem
gebrauche auszumünzen. der atticismus trieb die studien der alten litte-
ratur lediglich um selbst so schön zu schreiben und zu reden wie die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |