Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Wege und ziele der modernen tragikerkritik. als er dann sich an eine ausgabe des Euripides in grossem stile machte,erschien freilich die erklärung reicher, und die einleitungen giengen aus- führlich auf die poetische würdigung des kunstwerks ein, allein er gestand halb und halb zu, dass er doch nur erklärte, entweder warum er nicht änderte, oder warum er änderte, mit anderen worten, der zweck der ausgabe blieb die textkritik. wenn die gedichte nicht verdorben wären oder wenigstens dafür gehalten würden, so würde Hermann sie nicht herausgeben. und wie er es mit der krisis im antiken sinne hielt, haben die einleitungen besonders deutlich offenbart. was der tragiker tut, ist, dass er sich einen stoff sucht, geeignet furcht und mitleid zu erregen, und den nach den gesetzen oder dem herkommen seiner kunst behandelt 14). das wird verschieden sein, wenn es Euripides und wenn es Goethe ist, aber sie sind doch ohne weiteres concurrenten. es sind zuweilen sehr lesens- und beherzigenswerte auslassungen, nicht bloss um des mannes willen, der Goethe zu erbauen verstand; aber wer wollte leugnen, dass schon die damalige geschichtswissenschaft mehr fragen musste und mehr beantworten konnte? Die hermannische philologie ist noch durchaus die antike, oder viel- 14) Eur. tragoediae ed. G. H. I p. XII der vorrede zur Hekabe. dort auch die
ganze vorrede zur taurischen Iphigeneia nachzulesen. wie triviales dabei heraus- kommen konnte, sehe man in der vorrede zur Helene, haud optima haec tragoedia est .... quod nec gravis metus in ea nec magna miseratio est, und in den cor- recturen für die führung der dramatischen handlung in der vorrede der Phoenissen. hier wird das gedicht im ganzen an das kreuz der plumpen regel geschlagen, wie das versmass durch die forderung der auf sylbe und sylbenlänge congruenten responsion in den chören. Wege und ziele der modernen tragikerkritik. als er dann sich an eine ausgabe des Euripides in groſsem stile machte,erschien freilich die erklärung reicher, und die einleitungen giengen aus- führlich auf die poetische würdigung des kunstwerks ein, allein er gestand halb und halb zu, daſs er doch nur erklärte, entweder warum er nicht änderte, oder warum er änderte, mit anderen worten, der zweck der ausgabe blieb die textkritik. wenn die gedichte nicht verdorben wären oder wenigstens dafür gehalten würden, so würde Hermann sie nicht herausgeben. und wie er es mit der κρίσις im antiken sinne hielt, haben die einleitungen besonders deutlich offenbart. was der tragiker tut, ist, daſs er sich einen stoff sucht, geeignet furcht und mitleid zu erregen, und den nach den gesetzen oder dem herkommen seiner kunst behandelt 14). das wird verschieden sein, wenn es Euripides und wenn es Goethe ist, aber sie sind doch ohne weiteres concurrenten. es sind zuweilen sehr lesens- und beherzigenswerte auslassungen, nicht bloſs um des mannes willen, der Goethe zu erbauen verstand; aber wer wollte leugnen, daſs schon die damalige geschichtswissenschaft mehr fragen muſste und mehr beantworten konnte? Die hermannische philologie ist noch durchaus die antike, oder viel- 14) Eur. tragoediae ed. G. H. I p. XII der vorrede zur Hekabe. dort auch die
ganze vorrede zur taurischen Iphigeneia nachzulesen. wie triviales dabei heraus- kommen konnte, sehe man in der vorrede zur Helene, haud optima haec tragoedia est .... quod nec gravis metus in ea nec magna miseratio est, und in den cor- recturen für die führung der dramatischen handlung in der vorrede der Phoenissen. hier wird das gedicht im ganzen an das kreuz der plumpen regel geschlagen, wie das versmaſs durch die forderung der auf sylbe und sylbenlänge congruenten responsion in den chören. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0258" n="238"/><fw place="top" type="header">Wege und ziele der modernen tragikerkritik.</fw><lb/> als er dann sich an eine ausgabe des Euripides in groſsem stile machte,<lb/> erschien freilich die erklärung reicher, und die einleitungen giengen aus-<lb/> führlich auf die poetische würdigung des kunstwerks ein, allein er gestand<lb/> halb und halb zu, daſs er doch nur erklärte, entweder warum er nicht<lb/> änderte, oder warum er änderte, mit anderen worten, der zweck der<lb/> ausgabe blieb die textkritik. wenn die gedichte nicht verdorben wären<lb/> oder wenigstens dafür gehalten würden, so würde Hermann sie nicht<lb/> herausgeben. und wie er es mit der κρίσις im antiken sinne hielt,<lb/> haben die einleitungen besonders deutlich offenbart. was der tragiker tut,<lb/> ist, daſs er sich einen stoff sucht, geeignet furcht und mitleid zu erregen,<lb/> und den nach den gesetzen oder dem herkommen seiner kunst behandelt <note place="foot" n="14)">Eur. tragoediae ed. G. H. I p. XII der vorrede zur Hekabe. dort auch die<lb/> ganze vorrede zur taurischen Iphigeneia nachzulesen. wie triviales dabei heraus-<lb/> kommen konnte, sehe man in der vorrede zur Helene, <hi rendition="#i">haud optima haec tragoedia<lb/> est .... quod nec gravis metus in ea nec magna miseratio est</hi>, und in den cor-<lb/> recturen für die führung der dramatischen handlung in der vorrede der Phoenissen.<lb/> hier wird das gedicht im ganzen an das kreuz der plumpen regel geschlagen, wie das<lb/> versmaſs durch die forderung der auf sylbe und sylbenlänge congruenten responsion<lb/> in den chören.</note>.<lb/> das wird verschieden sein, wenn es Euripides und wenn es Goethe ist,<lb/> aber sie sind doch ohne weiteres concurrenten. es sind zuweilen sehr<lb/> lesens- und beherzigenswerte auslassungen, nicht bloſs um des mannes<lb/> willen, der Goethe zu erbauen verstand; aber wer wollte leugnen, daſs<lb/> schon die damalige geschichtswissenschaft mehr fragen muſste und mehr<lb/> beantworten konnte?</p><lb/> <p>Die hermannische philologie ist noch durchaus die antike, oder viel-<lb/> mehr wieder die antike, denn er schlieſst sich weder bewuſst noch durch<lb/> tradition an die definition des Dionysios Thrax an. aber er hätte sein<lb/> eigenes ziel nicht besser bezeichnen können. und wenn diese philologie<lb/> schon zu den zeiten des Dionysios Thrax oder besser des Aristarch eine<lb/> beschränkte war, und in ihrem abfalle von der aristotelischen wissenschaft<lb/> sich der beginnende verfall offenbart, wie viel minder muſs dieselbe jetzt<lb/> genügen, wo sich die philologie vielmehr aus aristarchischer beschränkung<lb/> zu aristotelischer universalität gehoben hat. aber wie trotz alledem<lb/> Aristarch in seiner bedeutung unverkleinert dasteht, so wird es mit<lb/> Hermann bleiben. sie sind keine <hi rendition="#i">maestri di color che sanno,</hi> aber sie sind<lb/> meister: man kann sehr leicht sagen was sie nicht sind, aber man genügt<lb/> sich nicht, will man so oder so versuchen zu sagen, was sie sind, und<lb/> könnte man’s, dem leser würde es nicht viel helfen. das will selbst erlebt<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [238/0258]
Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
als er dann sich an eine ausgabe des Euripides in groſsem stile machte,
erschien freilich die erklärung reicher, und die einleitungen giengen aus-
führlich auf die poetische würdigung des kunstwerks ein, allein er gestand
halb und halb zu, daſs er doch nur erklärte, entweder warum er nicht
änderte, oder warum er änderte, mit anderen worten, der zweck der
ausgabe blieb die textkritik. wenn die gedichte nicht verdorben wären
oder wenigstens dafür gehalten würden, so würde Hermann sie nicht
herausgeben. und wie er es mit der κρίσις im antiken sinne hielt,
haben die einleitungen besonders deutlich offenbart. was der tragiker tut,
ist, daſs er sich einen stoff sucht, geeignet furcht und mitleid zu erregen,
und den nach den gesetzen oder dem herkommen seiner kunst behandelt 14).
das wird verschieden sein, wenn es Euripides und wenn es Goethe ist,
aber sie sind doch ohne weiteres concurrenten. es sind zuweilen sehr
lesens- und beherzigenswerte auslassungen, nicht bloſs um des mannes
willen, der Goethe zu erbauen verstand; aber wer wollte leugnen, daſs
schon die damalige geschichtswissenschaft mehr fragen muſste und mehr
beantworten konnte?
Die hermannische philologie ist noch durchaus die antike, oder viel-
mehr wieder die antike, denn er schlieſst sich weder bewuſst noch durch
tradition an die definition des Dionysios Thrax an. aber er hätte sein
eigenes ziel nicht besser bezeichnen können. und wenn diese philologie
schon zu den zeiten des Dionysios Thrax oder besser des Aristarch eine
beschränkte war, und in ihrem abfalle von der aristotelischen wissenschaft
sich der beginnende verfall offenbart, wie viel minder muſs dieselbe jetzt
genügen, wo sich die philologie vielmehr aus aristarchischer beschränkung
zu aristotelischer universalität gehoben hat. aber wie trotz alledem
Aristarch in seiner bedeutung unverkleinert dasteht, so wird es mit
Hermann bleiben. sie sind keine maestri di color che sanno, aber sie sind
meister: man kann sehr leicht sagen was sie nicht sind, aber man genügt
sich nicht, will man so oder so versuchen zu sagen, was sie sind, und
könnte man’s, dem leser würde es nicht viel helfen. das will selbst erlebt
14) Eur. tragoediae ed. G. H. I p. XII der vorrede zur Hekabe. dort auch die
ganze vorrede zur taurischen Iphigeneia nachzulesen. wie triviales dabei heraus-
kommen konnte, sehe man in der vorrede zur Helene, haud optima haec tragoedia
est .... quod nec gravis metus in ea nec magna miseratio est, und in den cor-
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hier wird das gedicht im ganzen an das kreuz der plumpen regel geschlagen, wie das
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