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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
Nemea 58), dem bewohner des Apesas, des bergzuges, der des Zeus wiese
(nemea) von dem mykenischen hochlande trennt. aber die faust versagt
nicht: sie erwürgt die bestie, deren vliess das kleid des helden wird. der
nächste zug geht in die Inachosniederung: die wasserschlange von Lerna
erliegt der keule. in die benachbarten berge, welche Arkadiens hoch-
ebene von Argos scheiden, führt die bezwingung der hirschkuh. sie wird
erschlagen, weil sie die argolischen fluren zerwühlte 59). wie die hindin dem
löwen, entsprechen die gewaltigen vögel, die auf dem see von Stymphalos
schwimmen 60), dem lernäischen wassertier. und weiter geht es in der
befriedung des Argos, des Peloponneses. der eber, der Arkadiens felder
zerstörte, wird bis in den schnee des Erymanthosgebirges verfolgt, wo
Herakles den verklamten auf die schulter nimmt; als er ihn heim bringt,
kriecht der feige Eurystheus in ein fass 61). vom Erymanthos geht es nach
dem westlichen Arkadien, wo die Kentauren der Pholoe zu bezwingen
sind 62). in diesen sechs kämpfen ist die befriedung des Argos vollendet.
die folgenden vier führen sie weiter, so weit der horizont der Argolis
reicht. aus süden holt Herakles den kretischen stier, aus dem thrakischen
norden die rosse des Diomedes, aus dem osten den gürtel der Hippolyte, aus
dem westen die rinder des Geryones. das exemerosai gaian ist vollbracht.
der knechtschaft ist Herakles nun quitt, aber die knechtschaft ist gleich
seinem erdenleben. auch das muss nun zu ende gehen. er hat keinen platz
mehr auf der erde, wenn er nichts mehr auf ihr zu wirken hat. und doch
hat das gemeine menschenschicksal keine macht über ihn. das Alter 63)

58) Dieses hauptabenteuer haben sich die Boeoter nicht rauben lassen: darum
hat der nemeische löwe seinen kithaironischen doppelgänger, den auch des Herakles
doppelgänger Alkathoos bezwingt (oben anm. 47).
59) Vgl. zu v. 375.
60) Schwimmvögel sind es in der älteren tradition. und das ist in der ord-
nung, denn sie sind ja vertreter eines sees. wie sollten andere vögel ein gewässer
vertreten? dem entspricht, dass Her. sie mit einer schleuder tötet. Gaz. archeol. II 8.
spätere kunst führt auch hier die pfeile ein. die litterarische überlieferung, Peisandros
Hellanikos Pherekydes übereinstimmend (schol. Apoll. Rh. II 1052. 1055. 1088. Pausan.
8, 22), liess ihn die vögel nur mit einer klapper verscheuchen: sie steht also schon
im banne der Argonautensage, welche dieselben vögel auf einer Aresinsel wieder
einführte. die Athener verachten dieses abenteuer.
61) Der feste typus der bildenden kunst und die hier am urwüchsigsten hervor-
tretende Eurystheusverachtung beweist, dass die alte sage hier die kraft gehabt hat,
jeder umarbeitung zu spotten. das hat aber bewirkt, dass das abenteuer minder für
das wesen des Herakles selbst bezeichnend schien und daher allmählich zurücktrat.
62) Vgl. zu v. 182.
63) Vgl. zu v. 637. gerade dieser nur in der bildenden kunst rein erhaltene
zug ist als argolisch gesichert.

Der Herakles der sage.
Nemea 58), dem bewohner des Apesas, des bergzuges, der des Zeus wiese
(νέμεα) von dem mykenischen hochlande trennt. aber die faust versagt
nicht: sie erwürgt die bestie, deren vlieſs das kleid des helden wird. der
nächste zug geht in die Inachosniederung: die wasserschlange von Lerna
erliegt der keule. in die benachbarten berge, welche Arkadiens hoch-
ebene von Argos scheiden, führt die bezwingung der hirschkuh. sie wird
erschlagen, weil sie die argolischen fluren zerwühlte 59). wie die hindin dem
löwen, entsprechen die gewaltigen vögel, die auf dem see von Stymphalos
schwimmen 60), dem lernäischen wassertier. und weiter geht es in der
befriedung des Argos, des Peloponneses. der eber, der Arkadiens felder
zerstörte, wird bis in den schnee des Erymanthosgebirges verfolgt, wo
Herakles den verklamten auf die schulter nimmt; als er ihn heim bringt,
kriecht der feige Eurystheus in ein faſs 61). vom Erymanthos geht es nach
dem westlichen Arkadien, wo die Kentauren der Pholoe zu bezwingen
sind 62). in diesen sechs kämpfen ist die befriedung des Ἄργος vollendet.
die folgenden vier führen sie weiter, so weit der horizont der Argolis
reicht. aus süden holt Herakles den kretischen stier, aus dem thrakischen
norden die rosse des Diomedes, aus dem osten den gürtel der Hippolyte, aus
dem westen die rinder des Geryones. das ἐξημερῶσαι γαῖαν ist vollbracht.
der knechtschaft ist Herakles nun quitt, aber die knechtschaft ist gleich
seinem erdenleben. auch das muſs nun zu ende gehen. er hat keinen platz
mehr auf der erde, wenn er nichts mehr auf ihr zu wirken hat. und doch
hat das gemeine menschenschicksal keine macht über ihn. das Alter 63)

58) Dieses hauptabenteuer haben sich die Boeoter nicht rauben lassen: darum
hat der nemeische löwe seinen kithaironischen doppelgänger, den auch des Herakles
doppelgänger Alkathoos bezwingt (oben anm. 47).
59) Vgl. zu v. 375.
60) Schwimmvögel sind es in der älteren tradition. und das ist in der ord-
nung, denn sie sind ja vertreter eines sees. wie sollten andere vögel ein gewässer
vertreten? dem entspricht, daſs Her. sie mit einer schleuder tötet. Gaz. archéol. II 8.
spätere kunst führt auch hier die pfeile ein. die litterarische überlieferung, Peisandros
Hellanikos Pherekydes übereinstimmend (schol. Apoll. Rh. II 1052. 1055. 1088. Pausan.
8, 22), lieſs ihn die vögel nur mit einer klapper verscheuchen: sie steht also schon
im banne der Argonautensage, welche dieselben vögel auf einer Aresinsel wieder
einführte. die Athener verachten dieses abenteuer.
61) Der feste typus der bildenden kunst und die hier am urwüchsigsten hervor-
tretende Eurystheusverachtung beweist, daſs die alte sage hier die kraft gehabt hat,
jeder umarbeitung zu spotten. das hat aber bewirkt, daſs das abenteuer minder für
das wesen des Herakles selbst bezeichnend schien und daher allmählich zurücktrat.
62) Vgl. zu v. 182.
63) Vgl. zu v. 637. gerade dieser nur in der bildenden kunst rein erhaltene
zug ist als argolisch gesichert.
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[300/0320] Der Herakles der sage. Nemea 58), dem bewohner des Apesas, des bergzuges, der des Zeus wiese (νέμεα) von dem mykenischen hochlande trennt. aber die faust versagt nicht: sie erwürgt die bestie, deren vlieſs das kleid des helden wird. der nächste zug geht in die Inachosniederung: die wasserschlange von Lerna erliegt der keule. in die benachbarten berge, welche Arkadiens hoch- ebene von Argos scheiden, führt die bezwingung der hirschkuh. sie wird erschlagen, weil sie die argolischen fluren zerwühlte 59). wie die hindin dem löwen, entsprechen die gewaltigen vögel, die auf dem see von Stymphalos schwimmen 60), dem lernäischen wassertier. und weiter geht es in der befriedung des Argos, des Peloponneses. der eber, der Arkadiens felder zerstörte, wird bis in den schnee des Erymanthosgebirges verfolgt, wo Herakles den verklamten auf die schulter nimmt; als er ihn heim bringt, kriecht der feige Eurystheus in ein faſs 61). vom Erymanthos geht es nach dem westlichen Arkadien, wo die Kentauren der Pholoe zu bezwingen sind 62). in diesen sechs kämpfen ist die befriedung des Ἄργος vollendet. die folgenden vier führen sie weiter, so weit der horizont der Argolis reicht. aus süden holt Herakles den kretischen stier, aus dem thrakischen norden die rosse des Diomedes, aus dem osten den gürtel der Hippolyte, aus dem westen die rinder des Geryones. das ἐξημερῶσαι γαῖαν ist vollbracht. der knechtschaft ist Herakles nun quitt, aber die knechtschaft ist gleich seinem erdenleben. auch das muſs nun zu ende gehen. er hat keinen platz mehr auf der erde, wenn er nichts mehr auf ihr zu wirken hat. und doch hat das gemeine menschenschicksal keine macht über ihn. das Alter 63) 58) Dieses hauptabenteuer haben sich die Boeoter nicht rauben lassen: darum hat der nemeische löwe seinen kithaironischen doppelgänger, den auch des Herakles doppelgänger Alkathoos bezwingt (oben anm. 47). 59) Vgl. zu v. 375. 60) Schwimmvögel sind es in der älteren tradition. und das ist in der ord- nung, denn sie sind ja vertreter eines sees. wie sollten andere vögel ein gewässer vertreten? dem entspricht, daſs Her. sie mit einer schleuder tötet. Gaz. archéol. II 8. spätere kunst führt auch hier die pfeile ein. die litterarische überlieferung, Peisandros Hellanikos Pherekydes übereinstimmend (schol. Apoll. Rh. II 1052. 1055. 1088. Pausan. 8, 22), lieſs ihn die vögel nur mit einer klapper verscheuchen: sie steht also schon im banne der Argonautensage, welche dieselben vögel auf einer Aresinsel wieder einführte. die Athener verachten dieses abenteuer. 61) Der feste typus der bildenden kunst und die hier am urwüchsigsten hervor- tretende Eurystheusverachtung beweist, daſs die alte sage hier die kraft gehabt hat, jeder umarbeitung zu spotten. das hat aber bewirkt, daſs das abenteuer minder für das wesen des Herakles selbst bezeichnend schien und daher allmählich zurücktrat. 62) Vgl. zu v. 182. 63) Vgl. zu v. 637. gerade dieser nur in der bildenden kunst rein erhaltene zug ist als argolisch gesichert.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/320>, abgerufen am 22.11.2024.