Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der kindermord. die geschichte erzählt; doch lässt sich über sie nichts genaueres ermitteln,als dass sie den mord der kinder, nicht der mutter, durch den wahn- sinn motivirten 114). In der mythographischen überlieferung hat der kindermord seine feste 114) Wenigstens so viel gestattet der in seiner vertrackten weise auf zwei stellen verzettelte und unklar gehaltene bericht des Pausanias zu erkennen (IX 11 und X 29). er sagt bei erwähnung des kindergrabes nichts, als dass die Thebaioi die sache ouden ti alloios e Stesikhoros kai Panuassis erzählen, und nur einen be- sonderen zug zufügen. da kein grab der mutter da ist, kann sie in Theben nicht für mitgetötet gegolten haben. in der beschreibung des polygnotischen bildes (welcher er die dichtercitate verdankt), sagt er denn auch, dass Herakles sich von ihr getrennt habe. was er nun mit jenem ouden alloios sagen will, ist dass sein bericht über die dichter von der vulgata (d. h. Euripides) nicht wesentlich abweicht, ausser in dem einen hier nicht hergehörigen stücke. dann muss aber das eine, allgemein ge- glaubte, auch für jene dichter angenommen werden: der wahnsinn. auf die todesart ist leider kein schluss möglich. 115) Der kindermord stand im zweiten buche, für welches von Heraklessagen
sonst nur die erzeugung, aber sehr viel andere sagen auch bezeugt sind, so dass man den dodekathlos mit recht in das dritte setzt, aus welchem freilich nur das Geryones- abenteuer sicher bezeugt ist. Der kindermord. die geschichte erzählt; doch läſst sich über sie nichts genaueres ermitteln,als daſs sie den mord der kinder, nicht der mutter, durch den wahn- sinn motivirten 114). In der mythographischen überlieferung hat der kindermord seine feste 114) Wenigstens so viel gestattet der in seiner vertrackten weise auf zwei stellen verzettelte und unklar gehaltene bericht des Pausanias zu erkennen (IX 11 und X 29). er sagt bei erwähnung des kindergrabes nichts, als daſs die Θηβαῖοι die sache οὐδέν τι ἀλλοίως ἢ Στησίχορος καὶ Πανύασσις erzählen, und nur einen be- sonderen zug zufügen. da kein grab der mutter da ist, kann sie in Theben nicht für mitgetötet gegolten haben. in der beschreibung des polygnotischen bildes (welcher er die dichtercitate verdankt), sagt er denn auch, daſs Herakles sich von ihr getrennt habe. was er nun mit jenem οὐδὲν ἀλλοίως sagen will, ist daſs sein bericht über die dichter von der vulgata (d. h. Euripides) nicht wesentlich abweicht, auſser in dem einen hier nicht hergehörigen stücke. dann muſs aber das eine, allgemein ge- glaubte, auch für jene dichter angenommen werden: der wahnsinn. auf die todesart ist leider kein schluſs möglich. 115) Der kindermord stand im zweiten buche, für welches von Heraklessagen
sonst nur die erzeugung, aber sehr viel andere sagen auch bezeugt sind, so daſs man den dodekathlos mit recht in das dritte setzt, aus welchem freilich nur das Geryones- abenteuer sicher bezeugt ist. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0345" n="325"/><fw place="top" type="header">Der kindermord.</fw><lb/> die geschichte erzählt; doch läſst sich über sie nichts genaueres ermitteln,<lb/> als daſs sie den mord der kinder, nicht der mutter, durch den wahn-<lb/> sinn motivirten <note place="foot" n="114)">Wenigstens so viel gestattet der in seiner vertrackten weise auf zwei<lb/> stellen verzettelte und unklar gehaltene bericht des Pausanias zu erkennen (IX 11<lb/> und X 29). er sagt bei erwähnung des kindergrabes nichts, als daſs die Θηβαῖοι die<lb/> sache οὐδέν τι ἀλλοίως ἢ Στησίχορος καὶ Πανύασσις erzählen, und nur einen be-<lb/> sonderen zug zufügen. da kein grab der mutter da ist, kann sie in Theben nicht<lb/> für mitgetötet gegolten haben. in der beschreibung des polygnotischen bildes (welcher<lb/> er die dichtercitate verdankt), sagt er denn auch, daſs Herakles sich von ihr getrennt<lb/> habe. was er nun mit jenem οὐδὲν ἀλλοίως sagen will, ist daſs sein bericht über<lb/> die dichter von der vulgata (d. h. Euripides) nicht wesentlich abweicht, auſser in<lb/> dem einen hier nicht hergehörigen stücke. dann muſs aber das eine, allgemein ge-<lb/> glaubte, auch für jene dichter angenommen werden: der wahnsinn. auf die todesart<lb/> ist leider kein schluſs möglich.</note>.</p><lb/> <p>In der mythographischen überlieferung hat der kindermord seine feste<lb/> stelle und seinen ganz bestimmten zweck: er löst Herakles von Theben<lb/> und fällt vor die dienstbarkeit bei Eurystheus. so ist es schon bei Phere-<lb/> kydes gewesen <note place="foot" n="115)">Der kindermord stand im zweiten buche, für welches von Heraklessagen<lb/> sonst nur die erzeugung, aber sehr viel andere sagen auch bezeugt sind, so daſs man<lb/> den dodekathlos mit recht in das dritte setzt, aus welchem freilich nur das Geryones-<lb/> abenteuer sicher bezeugt ist.</note>. da die verbindung der thebanischen und der argolischen<lb/> sagen eine künstliche ist, so wird man zunächst geneigt sein, auf diesen<lb/> zeitlichen ansatz nichts zu geben. allein das bedürfnis, welches die mytho-<lb/> graphen befriedigen, muſs schon viel früher empfunden sein. was ant-<lb/> wortete ein Thebaner des 6. jahrhunderts auf. die frage ‘was hat denn<lb/> euren Herakles gezwungen, seine heimat zu verlassen; warum hat er bei<lb/> euch und für euch so wenig geleistet?’ wozu die andere kam ‘ihr sagt,<lb/> Herakles habe Megara, eures königs tochter, zum weibe gehabt; wo sind<lb/> denn ihre kinder, wo leben ihre nachkommen?’ wir beantworten heute<lb/> die frage so, daſs die peloponnesische dichtung die parallelen boeotischen<lb/> traditionen verdrängt hat, daſs der name Herakles selbst eine fremde be-<lb/> zeichnung war, die lange nicht alle taten des eingebornen parallelen heros<lb/> erbte, und daſs aus diesem grunde in der tat in Theben der adel nicht<lb/> auf herakleisches blut anspruch gemacht hat. Amphitryon und Iolaos haben<lb/> auch von dem echten Ἀλκαῖος vieles geerbt; Iolaos sogar die Megara.<lb/> aber der Thebaner des sechsten jahrhunderts konnte nur durch eine<lb/> sage antworten: ‘Herakles hat wegen einer unfreiwilligen bluttat fliehen<lb/> müssen’, das war die bis zum überdruſs in solchen fällen angewandte<lb/> motivirung. ‘söhne hat er wol gehabt, aber er hat sie selbst getötet’ so<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [325/0345]
Der kindermord.
die geschichte erzählt; doch läſst sich über sie nichts genaueres ermitteln,
als daſs sie den mord der kinder, nicht der mutter, durch den wahn-
sinn motivirten 114).
In der mythographischen überlieferung hat der kindermord seine feste
stelle und seinen ganz bestimmten zweck: er löst Herakles von Theben
und fällt vor die dienstbarkeit bei Eurystheus. so ist es schon bei Phere-
kydes gewesen 115). da die verbindung der thebanischen und der argolischen
sagen eine künstliche ist, so wird man zunächst geneigt sein, auf diesen
zeitlichen ansatz nichts zu geben. allein das bedürfnis, welches die mytho-
graphen befriedigen, muſs schon viel früher empfunden sein. was ant-
wortete ein Thebaner des 6. jahrhunderts auf. die frage ‘was hat denn
euren Herakles gezwungen, seine heimat zu verlassen; warum hat er bei
euch und für euch so wenig geleistet?’ wozu die andere kam ‘ihr sagt,
Herakles habe Megara, eures königs tochter, zum weibe gehabt; wo sind
denn ihre kinder, wo leben ihre nachkommen?’ wir beantworten heute
die frage so, daſs die peloponnesische dichtung die parallelen boeotischen
traditionen verdrängt hat, daſs der name Herakles selbst eine fremde be-
zeichnung war, die lange nicht alle taten des eingebornen parallelen heros
erbte, und daſs aus diesem grunde in der tat in Theben der adel nicht
auf herakleisches blut anspruch gemacht hat. Amphitryon und Iolaos haben
auch von dem echten Ἀλκαῖος vieles geerbt; Iolaos sogar die Megara.
aber der Thebaner des sechsten jahrhunderts konnte nur durch eine
sage antworten: ‘Herakles hat wegen einer unfreiwilligen bluttat fliehen
müssen’, das war die bis zum überdruſs in solchen fällen angewandte
motivirung. ‘söhne hat er wol gehabt, aber er hat sie selbst getötet’ so
114) Wenigstens so viel gestattet der in seiner vertrackten weise auf zwei
stellen verzettelte und unklar gehaltene bericht des Pausanias zu erkennen (IX 11
und X 29). er sagt bei erwähnung des kindergrabes nichts, als daſs die Θηβαῖοι die
sache οὐδέν τι ἀλλοίως ἢ Στησίχορος καὶ Πανύασσις erzählen, und nur einen be-
sonderen zug zufügen. da kein grab der mutter da ist, kann sie in Theben nicht
für mitgetötet gegolten haben. in der beschreibung des polygnotischen bildes (welcher
er die dichtercitate verdankt), sagt er denn auch, daſs Herakles sich von ihr getrennt
habe. was er nun mit jenem οὐδὲν ἀλλοίως sagen will, ist daſs sein bericht über
die dichter von der vulgata (d. h. Euripides) nicht wesentlich abweicht, auſser in
dem einen hier nicht hergehörigen stücke. dann muſs aber das eine, allgemein ge-
glaubte, auch für jene dichter angenommen werden: der wahnsinn. auf die todesart
ist leider kein schluſs möglich.
115) Der kindermord stand im zweiten buche, für welches von Heraklessagen
sonst nur die erzeugung, aber sehr viel andere sagen auch bezeugt sind, so daſs man
den dodekathlos mit recht in das dritte setzt, aus welchem freilich nur das Geryones-
abenteuer sicher bezeugt ist.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |