In unübersehbarer fülle war die masse der Heraklestaten gewachsen; immer neue gefahren und immer neue wanderungen hatte das volk ihm auferlegt. die schale der irdischen mühen ward also immer voller, mochte er auch in jedem neuen kampfe siegreich gewesen sein. die ewige selig- keit aber ist ein ewiges einerlei; von ihr lässt sich unter keinen voraus- setzungen viel erzählen. so hielt sie also in vieler augen den leiden und arbeiten nicht die wage. Herakles erhielt den charakter des dulders; sein geschick ward mehr beklagt als beneidet. so hat schon ein dichter in den Eoeen seine mutter ihn wiederholt ponerotaton kai ariston (fgm. 159. 160) nennen lassen. und der dichter des Schildes legt ihm schon die unwillige klage in den mund, dass sein vater Amphitryon sich schwer an den göttern vergangen haben müsse, da sich der eine sohn Iphikles in schande gestürzt hätte, autar emoi daimon khalepous epetellen aethlous (94). das ist die stimmung, aus welcher er auch bei Euripides und Sophokles klagt. wahrhaft erschütternd wirkt vollends seine anrede an Odysseus in der unterwelt "du ärmster, hast du denn auch ein elendes geschick zu schleppen, wie ich es auf erden ertrug? der sohn des Zeus war ich, aber unermessliches unheil war mein teil (l 613)". so spricht freilich nur sein schatten, und der dichter verfehlt nicht hervorzuheben, dass der heros selbst im himmel als Hebes gatte weilt 119 a). aber es ist um die frohe zuversicht des glaubens geschehen, wenn auch nur der schatten des Herakles dem tode verfallen ist. aus dieser trüben auf- fassung ist der gedrückte und ermüdete held hervorgegangen, den uns spätere kunstwerke, und doch nicht nur späte, darstellen: ein schönes bild, gewiss; aber dass das menschenleben eitel mühe und arbeit ist, ist darin auf die bedeutung herabgesunken, welche der verfasser des 90. psalmes mit diesem spruche verband, während der echte Herakles so dachte, wie wir den spruch umdeuten. so ist Herakles dazu gekommen, den jammer des menschenlooses darzustellen, und für diese betrachtungsweise waren die geschichten besonders erwünscht, welche ihn schwach und sündig zeigten, der kindermord, der frevel an Iphitos, die vergiftung und selbst- verbrennung. und indem man sich von diesem standpunkte aus ein voll- bild des charakters von dem heros zu entwerfen versuchte, ist die merk- würdige ansicht von dem Erakles melagkholikos entstanden, die kein geringerer als Aristoteles in geistvoller weise durchführt, indem er Herakles mit in die reihe der grössten staatsmänner, denker und künstler stellt, die alle melagkholikoi gewesen waren 120). das ist in dem verbreiteten
119 a) Vgl. Homer. Unters. 203.
120) Problem. 30, 1. dass die lehre aristotelisch ist, kann nicht bezweifelt
Der Herakles der sage.
In unübersehbarer fülle war die masse der Heraklestaten gewachsen; immer neue gefahren und immer neue wanderungen hatte das volk ihm auferlegt. die schale der irdischen mühen ward also immer voller, mochte er auch in jedem neuen kampfe siegreich gewesen sein. die ewige selig- keit aber ist ein ewiges einerlei; von ihr läſst sich unter keinen voraus- setzungen viel erzählen. so hielt sie also in vieler augen den leiden und arbeiten nicht die wage. Herakles erhielt den charakter des dulders; sein geschick ward mehr beklagt als beneidet. so hat schon ein dichter in den Eoeen seine mutter ihn wiederholt πονηρότατον καὶ ἄριστον (fgm. 159. 160) nennen lassen. und der dichter des Schildes legt ihm schon die unwillige klage in den mund, daſs sein vater Amphitryon sich schwer an den göttern vergangen haben müsse, da sich der eine sohn Iphikles in schande gestürzt hätte, αὐτὰρ ἐμοὶ δαίμων χαλεπούς ἐπέτελλεν ἀέϑλους (94). das ist die stimmung, aus welcher er auch bei Euripides und Sophokles klagt. wahrhaft erschütternd wirkt vollends seine anrede an Odysseus in der unterwelt “du ärmster, hast du denn auch ein elendes geschick zu schleppen, wie ich es auf erden ertrug? der sohn des Zeus war ich, aber unermeſsliches unheil war mein teil (λ 613)”. so spricht freilich nur sein schatten, und der dichter verfehlt nicht hervorzuheben, daſs der heros selbst im himmel als Hebes gatte weilt 119 a). aber es ist um die frohe zuversicht des glaubens geschehen, wenn auch nur der schatten des Herakles dem tode verfallen ist. aus dieser trüben auf- fassung ist der gedrückte und ermüdete held hervorgegangen, den uns spätere kunstwerke, und doch nicht nur späte, darstellen: ein schönes bild, gewiſs; aber daſs das menschenleben eitel mühe und arbeit ist, ist darin auf die bedeutung herabgesunken, welche der verfasser des 90. psalmes mit diesem spruche verband, während der echte Herakles so dachte, wie wir den spruch umdeuten. so ist Herakles dazu gekommen, den jammer des menschenlooses darzustellen, und für diese betrachtungsweise waren die geschichten besonders erwünscht, welche ihn schwach und sündig zeigten, der kindermord, der frevel an Iphitos, die vergiftung und selbst- verbrennung. und indem man sich von diesem standpunkte aus ein voll- bild des charakters von dem heros zu entwerfen versuchte, ist die merk- würdige ansicht von dem Ἡρακλῆς μελαγχολικός entstanden, die kein geringerer als Aristoteles in geistvoller weise durchführt, indem er Herakles mit in die reihe der gröſsten staatsmänner, denker und künstler stellt, die alle μελαγχολικοί gewesen waren 120). das ist in dem verbreiteten
119 a) Vgl. Homer. Unters. 203.
120) Problem. 30, 1. daſs die lehre aristotelisch ist, kann nicht bezweifelt
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Der Herakles der sage.
In unübersehbarer fülle war die masse der Heraklestaten gewachsen;
immer neue gefahren und immer neue wanderungen hatte das volk ihm
auferlegt. die schale der irdischen mühen ward also immer voller, mochte
er auch in jedem neuen kampfe siegreich gewesen sein. die ewige selig-
keit aber ist ein ewiges einerlei; von ihr läſst sich unter keinen voraus-
setzungen viel erzählen. so hielt sie also in vieler augen den leiden und
arbeiten nicht die wage. Herakles erhielt den charakter des dulders;
sein geschick ward mehr beklagt als beneidet. so hat schon ein dichter
in den Eoeen seine mutter ihn wiederholt πονηρότατον καὶ ἄριστον
(fgm. 159. 160) nennen lassen. und der dichter des Schildes legt ihm schon
die unwillige klage in den mund, daſs sein vater Amphitryon sich schwer
an den göttern vergangen haben müsse, da sich der eine sohn Iphikles
in schande gestürzt hätte, αὐτὰρ ἐμοὶ δαίμων χαλεπούς ἐπέτελλεν
ἀέϑλους (94). das ist die stimmung, aus welcher er auch bei Euripides
und Sophokles klagt. wahrhaft erschütternd wirkt vollends seine anrede
an Odysseus in der unterwelt “du ärmster, hast du denn auch ein elendes
geschick zu schleppen, wie ich es auf erden ertrug? der sohn des Zeus
war ich, aber unermeſsliches unheil war mein teil (λ 613)”. so spricht
freilich nur sein schatten, und der dichter verfehlt nicht hervorzuheben,
daſs der heros selbst im himmel als Hebes gatte weilt 119 a). aber es ist
um die frohe zuversicht des glaubens geschehen, wenn auch nur der
schatten des Herakles dem tode verfallen ist. aus dieser trüben auf-
fassung ist der gedrückte und ermüdete held hervorgegangen, den uns
spätere kunstwerke, und doch nicht nur späte, darstellen: ein schönes
bild, gewiſs; aber daſs das menschenleben eitel mühe und arbeit ist, ist
darin auf die bedeutung herabgesunken, welche der verfasser des 90. psalmes
mit diesem spruche verband, während der echte Herakles so dachte, wie
wir den spruch umdeuten. so ist Herakles dazu gekommen, den jammer
des menschenlooses darzustellen, und für diese betrachtungsweise waren
die geschichten besonders erwünscht, welche ihn schwach und sündig
zeigten, der kindermord, der frevel an Iphitos, die vergiftung und selbst-
verbrennung. und indem man sich von diesem standpunkte aus ein voll-
bild des charakters von dem heros zu entwerfen versuchte, ist die merk-
würdige ansicht von dem Ἡρακλῆς μελαγχολικός entstanden, die kein
geringerer als Aristoteles in geistvoller weise durchführt, indem er Herakles
mit in die reihe der gröſsten staatsmänner, denker und künstler stellt,
die alle μελαγχολικοί gewesen waren 120). das ist in dem verbreiteten
119 a) Vgl. Homer. Unters. 203.
120) Problem. 30, 1. daſs die lehre aristotelisch ist, kann nicht bezweifelt
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/350>, abgerufen am 21.11.2024.
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