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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aufführungszeit.
wenn wir abfassung und aufführung praktisch gleichsetzen, so wächst
dadurch nur der wert der didaskalischen angaben, und wo sie fehlen,
kann der versuch gemacht werden, sie einigermassen zu ersetzen: was
wir von indicien den verschiedenen partieen des dramas entnehmen, darf
auf eine und dieselbe zeit bezogen werden.

Für den Herakles ist weitaus das wichtigste eine subjective äusserung
des dichters, eine der wenigen ganz persönlichen stimmungsäusserungen,
und schon als solche unschätzbar. der dichter lässt seinen chor, un-
mittelbar nachdem er das alter verflucht und den wunsch nach einem
doppelten leben als lohn für die tugend ausgesprochen hat, geloben,
den Musen treu zu bleiben, welche auch dem alter treu bleiben 4). kein
fühlender leser kann verkennen, dass das aus eigenster seele gesprochen
ist. also alt war oder besser alt fühlte sich Euripides, aber in seiner
poesie nicht gealtert. nun kann man das freilich nicht auf's jahr aus-
rechnen, wann ein mann sich alt fühlt, noch wann er es äussern mag,
aber nach antiker anschauung kann man das geras vor dem sechzigsten
jahre unmöglich beginnen lassen. wir mögen also zunächst uns bescheiden,
zumal die geburt des Euripides kaum auf ein jahrzehnt sicher festgestellt
werden kann, dass er den Herakles nicht vor 424 gedichtet haben kann.
das nächste würde dann wol sein, zu fragen, ob die resignirte und doch
schaffenskräftige stimmung, durch die vergleichung mit anderen werken
genauere datirung ermöglicht. allein das wird erst kenntlich, wenn der
gehalt des dramas erfasst ist. und die moderne meinung hat vor solchen
schlüssen aus dem geiste des werkes auf seine entstchungszeit eine starke
scheu: versuchen wir also zunächst die anderen betreteneren pfade.

Die nächste hoffnung, durch zeitgenössische anspielungen einen ter-
minus ante quem zu gewinnen, versagt: denn der spott der komödie hat
diese tragödie verschont. Euripides selbst hat in der parodos seines
Orestes eine scene des Herakles nachgebildet 5); aber damit, dass dieser
vor 408 gedichtet ist, lernen wir nichts von belang. wichtig an sich
ist, dass die Trachinierinnen des Sophokles nicht nur deutliche anklänge
an den Herakles enthalten 6), sondern geradezu durch ihn angeregt sind.

mit der hypothese einer solchen umarbeitung gerechnet. allein es sind das ersicht-
lich nur hypothesen, und sie schweben ganz und gar in der luft. vgl. oben s. 42.
4) Vgl. den commentar zu der dritten gesangnummer.
5) Vgl. II 237 ff.
6) Vgl. zu v. 181, 1309, 1353, 1373 und F. Schroeder de iteratis apud tragicos
Graecos
112. besonders bezeichnend S. Tr. 416 aus E. Hik. 569: Sophokles hat
arglos ein wort beibehalten, als er eine nebenfigur nach dem muster einer euripi-
deischen stilisirte, welche mit den neuen künsten der rhetorischen charakteristik

Aufführungszeit.
wenn wir abfassung und aufführung praktisch gleichsetzen, so wächst
dadurch nur der wert der didaskalischen angaben, und wo sie fehlen,
kann der versuch gemacht werden, sie einigermaſsen zu ersetzen: was
wir von indicien den verschiedenen partieen des dramas entnehmen, darf
auf eine und dieselbe zeit bezogen werden.

Für den Herakles ist weitaus das wichtigste eine subjective äuſserung
des dichters, eine der wenigen ganz persönlichen stimmungsäuſserungen,
und schon als solche unschätzbar. der dichter läſst seinen chor, un-
mittelbar nachdem er das alter verflucht und den wunsch nach einem
doppelten leben als lohn für die tugend ausgesprochen hat, geloben,
den Musen treu zu bleiben, welche auch dem alter treu bleiben 4). kein
fühlender leser kann verkennen, daſs das aus eigenster seele gesprochen
ist. also alt war oder besser alt fühlte sich Euripides, aber in seiner
poesie nicht gealtert. nun kann man das freilich nicht auf’s jahr aus-
rechnen, wann ein mann sich alt fühlt, noch wann er es äuſsern mag,
aber nach antiker anschauung kann man das γῆρας vor dem sechzigsten
jahre unmöglich beginnen lassen. wir mögen also zunächst uns bescheiden,
zumal die geburt des Euripides kaum auf ein jahrzehnt sicher festgestellt
werden kann, daſs er den Herakles nicht vor 424 gedichtet haben kann.
das nächste würde dann wol sein, zu fragen, ob die resignirte und doch
schaffenskräftige stimmung, durch die vergleichung mit anderen werken
genauere datirung ermöglicht. allein das wird erst kenntlich, wenn der
gehalt des dramas erfaſst ist. und die moderne meinung hat vor solchen
schlüssen aus dem geiste des werkes auf seine entstchungszeit eine starke
scheu: versuchen wir also zunächst die anderen betreteneren pfade.

Die nächste hoffnung, durch zeitgenössische anspielungen einen ter-
minus ante quem zu gewinnen, versagt: denn der spott der komödie hat
diese tragödie verschont. Euripides selbst hat in der parodos seines
Orestes eine scene des Herakles nachgebildet 5); aber damit, daſs dieser
vor 408 gedichtet ist, lernen wir nichts von belang. wichtig an sich
ist, daſs die Trachinierinnen des Sophokles nicht nur deutliche anklänge
an den Herakles enthalten 6), sondern geradezu durch ihn angeregt sind.

mit der hypothese einer solchen umarbeitung gerechnet. allein es sind das ersicht-
lich nur hypothesen, und sie schweben ganz und gar in der luft. vgl. oben s. 42.
4) Vgl. den commentar zu der dritten gesangnummer.
5) Vgl. II 237 ff.
6) Vgl. zu v. 181, 1309, 1353, 1373 und F. Schroeder de iteratis apud tragicos
Graecos
112. besonders bezeichnend S. Tr. 416 aus E. Hik. 569: Sophokles hat
arglos ein wort beibehalten, als er eine nebenfigur nach dem muster einer euripi-
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[343/0363] Aufführungszeit. wenn wir abfassung und aufführung praktisch gleichsetzen, so wächst dadurch nur der wert der didaskalischen angaben, und wo sie fehlen, kann der versuch gemacht werden, sie einigermaſsen zu ersetzen: was wir von indicien den verschiedenen partieen des dramas entnehmen, darf auf eine und dieselbe zeit bezogen werden. Für den Herakles ist weitaus das wichtigste eine subjective äuſserung des dichters, eine der wenigen ganz persönlichen stimmungsäuſserungen, und schon als solche unschätzbar. der dichter läſst seinen chor, un- mittelbar nachdem er das alter verflucht und den wunsch nach einem doppelten leben als lohn für die tugend ausgesprochen hat, geloben, den Musen treu zu bleiben, welche auch dem alter treu bleiben 4). kein fühlender leser kann verkennen, daſs das aus eigenster seele gesprochen ist. also alt war oder besser alt fühlte sich Euripides, aber in seiner poesie nicht gealtert. nun kann man das freilich nicht auf’s jahr aus- rechnen, wann ein mann sich alt fühlt, noch wann er es äuſsern mag, aber nach antiker anschauung kann man das γῆρας vor dem sechzigsten jahre unmöglich beginnen lassen. wir mögen also zunächst uns bescheiden, zumal die geburt des Euripides kaum auf ein jahrzehnt sicher festgestellt werden kann, daſs er den Herakles nicht vor 424 gedichtet haben kann. das nächste würde dann wol sein, zu fragen, ob die resignirte und doch schaffenskräftige stimmung, durch die vergleichung mit anderen werken genauere datirung ermöglicht. allein das wird erst kenntlich, wenn der gehalt des dramas erfaſst ist. und die moderne meinung hat vor solchen schlüssen aus dem geiste des werkes auf seine entstchungszeit eine starke scheu: versuchen wir also zunächst die anderen betreteneren pfade. Die nächste hoffnung, durch zeitgenössische anspielungen einen ter- minus ante quem zu gewinnen, versagt: denn der spott der komödie hat diese tragödie verschont. Euripides selbst hat in der parodos seines Orestes eine scene des Herakles nachgebildet 5); aber damit, daſs dieser vor 408 gedichtet ist, lernen wir nichts von belang. wichtig an sich ist, daſs die Trachinierinnen des Sophokles nicht nur deutliche anklänge an den Herakles enthalten 6), sondern geradezu durch ihn angeregt sind. 3) 4) Vgl. den commentar zu der dritten gesangnummer. 5) Vgl. II 237 ff. 6) Vgl. zu v. 181, 1309, 1353, 1373 und F. Schroeder de iteratis apud tragicos Graecos 112. besonders bezeichnend S. Tr. 416 aus E. Hik. 569: Sophokles hat arglos ein wort beibehalten, als er eine nebenfigur nach dem muster einer euripi- deischen stilisirte, welche mit den neuen künsten der rhetorischen charakteristik 3) mit der hypothese einer solchen umarbeitung gerechnet. allein es sind das ersicht- lich nur hypothesen, und sie schweben ganz und gar in der luft. vgl. oben s. 42.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/363>, abgerufen am 22.11.2024.