Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der Herakles des Euripides. mit mehr oder weniger lebensvollem detail, so müssen wir als allgemeinbekannt mindestens auch noch mitrechnen, dass die kinder von Megara, der tochter des Kreon, stammten, dass die tat in Theben geschah, und dass Herakles um ihretwillen seine vaterstadt verlassen hat. es hat sich oben aber auch schon gezeigt, dass die geschichte sowol in den Kyprien stand wie in einem gedichte des Stesichoros, und das homerische gedicht war allgemein, Stesichoros auch sehr weiten kreisen bekannt, insbesondere aber hat Euripides nachweislich aus beiden vielfach anregungen empfangen. wenn er also diesen gegenstand behandeln wollte, so fand er hier den logos in der geltenden form, an die er ansetzen musste. in den Kyprien konnte nun schwerlich dieses beispiel der geschichte viel ausführlicher erzählt sein als etwa in der Ilias die geschichte vom Thrakter Lykurgos oder der gefangenschaft des Ares bei Otos. ob es bei Stesichoros breiter behandelt war, entzieht sich jeder vermutung, kann aber deshalb auch nicht vorausgesetzt werden. dass die thebanische localsage von Euripides nicht berücksichtigt ist, zeigt die vergleichung mit Pindar. es ist natür- lich nicht nur von vornherein ein methodischer fehler, vor dem es übrigens schwer ist sich zu hüten, wollte man dem Euripides nur die kenntnis von den behandlungen der sage zutrauen, deren existenz uns bekannt ist: es ist nicht nur möglich, dass ihm sehr viel ausgiebigere andere zu gebote gestanden haben können, ja es lässt sich noch zeigen, dass er einzelne züge übernommen hat, deren herkunft wir nicht kennen, und die doch, wenn unsere gewährsmänner zuverlässig sind, in den nam- haft gemachten dichtungen gefehlt haben. bei Euripides bewirkt Athena durch einen steinwurf, dass Herakles, schon im begriffe Amphitryon zu töten, inne hält und in schlaf sinkt. es ist das zwar sehr wirkungsvoll, zumal für das seinen wahnsinn begleitende chorlied; allein die einwirkung Athenas hat nicht nur für die ganze sonstige ökonomie des dramas keine bedeutung, wird dem Herakles sogar nicht einmal bekannt, sondern sie wird durch einen das wunder bezweifelnden ausdruck des boten herab- gesetzt (v. 1002): das alles ist unbegreiflich, wenn der dichter diesen zug erfunden haben sollte. der erfinder wird die rettende einwirkung der göttin in einen wirksamen gegensatz zu der verderblichen der Hera ge- stellt haben. ja noch mehr: die rettende reinigende tat ist bei Euripides das werk des Atheners Theseus, nicht mehr der Athena. in seiner art liegt es die menschliche motivirung an die stelle des göttlichen wunders zu setzen: dann hat er aber wahrlich dieses wunder nicht selbst erfunden, sondern nur als ein überliefertes nebenstück äusserlich festgehalten. nun würde ein solcher abschluss für das epos zumal ganz vortrefflich passen, Der Herakles des Euripides. mit mehr oder weniger lebensvollem detail, so müssen wir als allgemeinbekannt mindestens auch noch mitrechnen, daſs die kinder von Megara, der tochter des Kreon, stammten, daſs die tat in Theben geschah, und daſs Herakles um ihretwillen seine vaterstadt verlassen hat. es hat sich oben aber auch schon gezeigt, daſs die geschichte sowol in den Kyprien stand wie in einem gedichte des Stesichoros, und das homerische gedicht war allgemein, Stesichoros auch sehr weiten kreisen bekannt, insbesondere aber hat Euripides nachweislich aus beiden vielfach anregungen empfangen. wenn er also diesen gegenstand behandeln wollte, so fand er hier den λόγος in der geltenden form, an die er ansetzen muſste. in den Kyprien konnte nun schwerlich dieses beispiel der geschichte viel ausführlicher erzählt sein als etwa in der Ilias die geschichte vom Thrakter Lykurgos oder der gefangenschaft des Ares bei Otos. ob es bei Stesichoros breiter behandelt war, entzieht sich jeder vermutung, kann aber deshalb auch nicht vorausgesetzt werden. daſs die thebanische localsage von Euripides nicht berücksichtigt ist, zeigt die vergleichung mit Pindar. es ist natür- lich nicht nur von vornherein ein methodischer fehler, vor dem es übrigens schwer ist sich zu hüten, wollte man dem Euripides nur die kenntnis von den behandlungen der sage zutrauen, deren existenz uns bekannt ist: es ist nicht nur möglich, daſs ihm sehr viel ausgiebigere andere zu gebote gestanden haben können, ja es läſst sich noch zeigen, daſs er einzelne züge übernommen hat, deren herkunft wir nicht kennen, und die doch, wenn unsere gewährsmänner zuverlässig sind, in den nam- haft gemachten dichtungen gefehlt haben. bei Euripides bewirkt Athena durch einen steinwurf, daſs Herakles, schon im begriffe Amphitryon zu töten, inne hält und in schlaf sinkt. es ist das zwar sehr wirkungsvoll, zumal für das seinen wahnsinn begleitende chorlied; allein die einwirkung Athenas hat nicht nur für die ganze sonstige ökonomie des dramas keine bedeutung, wird dem Herakles sogar nicht einmal bekannt, sondern sie wird durch einen das wunder bezweifelnden ausdruck des boten herab- gesetzt (v. 1002): das alles ist unbegreiflich, wenn der dichter diesen zug erfunden haben sollte. der erfinder wird die rettende einwirkung der göttin in einen wirksamen gegensatz zu der verderblichen der Hera ge- stellt haben. ja noch mehr: die rettende reinigende tat ist bei Euripides das werk des Atheners Theseus, nicht mehr der Athena. in seiner art liegt es die menschliche motivirung an die stelle des göttlichen wunders zu setzen: dann hat er aber wahrlich dieses wunder nicht selbst erfunden, sondern nur als ein überliefertes nebenstück äuſserlich festgehalten. nun würde ein solcher abschluſs für das epos zumal ganz vortrefflich passen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0376" n="356"/><fw place="top" type="header">Der Herakles des Euripides.</fw><lb/> mit mehr oder weniger lebensvollem detail, so müssen wir als allgemein<lb/> bekannt mindestens auch noch mitrechnen, daſs die kinder von Megara,<lb/> der tochter des Kreon, stammten, daſs die tat in Theben geschah, und<lb/> daſs Herakles um ihretwillen seine vaterstadt verlassen hat. es hat sich<lb/> oben aber auch schon gezeigt, daſs die geschichte sowol in den Kyprien<lb/> stand wie in einem gedichte des Stesichoros, und das homerische gedicht<lb/> war allgemein, Stesichoros auch sehr weiten kreisen bekannt, insbesondere<lb/> aber hat Euripides nachweislich aus beiden vielfach anregungen empfangen.<lb/> wenn er also diesen gegenstand behandeln wollte, so fand er hier den<lb/> λόγος in der geltenden form, an die er ansetzen muſste. in den Kyprien<lb/> konnte nun schwerlich dieses beispiel der geschichte viel ausführlicher<lb/> erzählt sein als etwa in der Ilias die geschichte vom Thrakter Lykurgos<lb/> oder der gefangenschaft des Ares bei Otos. ob es bei Stesichoros breiter<lb/> behandelt war, entzieht sich jeder vermutung, kann aber deshalb auch<lb/> nicht vorausgesetzt werden. daſs die thebanische localsage von Euripides<lb/> nicht berücksichtigt ist, zeigt die vergleichung mit Pindar. es ist natür-<lb/> lich nicht nur von vornherein ein methodischer fehler, vor dem es<lb/> übrigens schwer ist sich zu hüten, wollte man dem Euripides nur die<lb/> kenntnis von den behandlungen der sage zutrauen, deren existenz uns<lb/> bekannt ist: es ist nicht nur möglich, daſs ihm sehr viel ausgiebigere<lb/> andere zu gebote gestanden haben können, ja es läſst sich noch zeigen, daſs<lb/> er einzelne züge übernommen hat, deren herkunft wir nicht kennen,<lb/> und die doch, wenn unsere gewährsmänner zuverlässig sind, in den nam-<lb/> haft gemachten dichtungen gefehlt haben. bei Euripides bewirkt Athena<lb/> durch einen steinwurf, daſs Herakles, schon im begriffe Amphitryon zu<lb/> töten, inne hält und in schlaf sinkt. es ist das zwar sehr wirkungsvoll,<lb/> zumal für das seinen wahnsinn begleitende chorlied; allein die einwirkung<lb/> Athenas hat nicht nur für die ganze sonstige ökonomie des dramas keine<lb/> bedeutung, wird dem Herakles sogar nicht einmal bekannt, sondern sie<lb/> wird durch einen das wunder bezweifelnden ausdruck des boten herab-<lb/> gesetzt (v. 1002): das alles ist unbegreiflich, wenn der dichter diesen zug<lb/> erfunden haben sollte. der erfinder wird die rettende einwirkung der<lb/> göttin in einen wirksamen gegensatz zu der verderblichen der Hera ge-<lb/> stellt haben. ja noch mehr: die rettende reinigende tat ist bei Euripides<lb/> das werk des Atheners Theseus, nicht mehr der Athena. in seiner art<lb/> liegt es die menschliche motivirung an die stelle des göttlichen wunders<lb/> zu setzen: dann hat er aber wahrlich dieses wunder nicht selbst erfunden,<lb/> sondern nur als ein überliefertes nebenstück äuſserlich festgehalten. nun<lb/> würde ein solcher abschluſs für das epos zumal ganz vortrefflich passen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [356/0376]
Der Herakles des Euripides.
mit mehr oder weniger lebensvollem detail, so müssen wir als allgemein
bekannt mindestens auch noch mitrechnen, daſs die kinder von Megara,
der tochter des Kreon, stammten, daſs die tat in Theben geschah, und
daſs Herakles um ihretwillen seine vaterstadt verlassen hat. es hat sich
oben aber auch schon gezeigt, daſs die geschichte sowol in den Kyprien
stand wie in einem gedichte des Stesichoros, und das homerische gedicht
war allgemein, Stesichoros auch sehr weiten kreisen bekannt, insbesondere
aber hat Euripides nachweislich aus beiden vielfach anregungen empfangen.
wenn er also diesen gegenstand behandeln wollte, so fand er hier den
λόγος in der geltenden form, an die er ansetzen muſste. in den Kyprien
konnte nun schwerlich dieses beispiel der geschichte viel ausführlicher
erzählt sein als etwa in der Ilias die geschichte vom Thrakter Lykurgos
oder der gefangenschaft des Ares bei Otos. ob es bei Stesichoros breiter
behandelt war, entzieht sich jeder vermutung, kann aber deshalb auch
nicht vorausgesetzt werden. daſs die thebanische localsage von Euripides
nicht berücksichtigt ist, zeigt die vergleichung mit Pindar. es ist natür-
lich nicht nur von vornherein ein methodischer fehler, vor dem es
übrigens schwer ist sich zu hüten, wollte man dem Euripides nur die
kenntnis von den behandlungen der sage zutrauen, deren existenz uns
bekannt ist: es ist nicht nur möglich, daſs ihm sehr viel ausgiebigere
andere zu gebote gestanden haben können, ja es läſst sich noch zeigen, daſs
er einzelne züge übernommen hat, deren herkunft wir nicht kennen,
und die doch, wenn unsere gewährsmänner zuverlässig sind, in den nam-
haft gemachten dichtungen gefehlt haben. bei Euripides bewirkt Athena
durch einen steinwurf, daſs Herakles, schon im begriffe Amphitryon zu
töten, inne hält und in schlaf sinkt. es ist das zwar sehr wirkungsvoll,
zumal für das seinen wahnsinn begleitende chorlied; allein die einwirkung
Athenas hat nicht nur für die ganze sonstige ökonomie des dramas keine
bedeutung, wird dem Herakles sogar nicht einmal bekannt, sondern sie
wird durch einen das wunder bezweifelnden ausdruck des boten herab-
gesetzt (v. 1002): das alles ist unbegreiflich, wenn der dichter diesen zug
erfunden haben sollte. der erfinder wird die rettende einwirkung der
göttin in einen wirksamen gegensatz zu der verderblichen der Hera ge-
stellt haben. ja noch mehr: die rettende reinigende tat ist bei Euripides
das werk des Atheners Theseus, nicht mehr der Athena. in seiner art
liegt es die menschliche motivirung an die stelle des göttlichen wunders
zu setzen: dann hat er aber wahrlich dieses wunder nicht selbst erfunden,
sondern nur als ein überliefertes nebenstück äuſserlich festgehalten. nun
würde ein solcher abschluſs für das epos zumal ganz vortrefflich passen,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |