Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Gestaltung des stoffes.
officielle erklärung dafür, dass der dorische heros allerorten, der stifter
der attischen demokratie nirgend einen alten cult besass. wenn aber
Herakles bei lebzeiten einen so grossen besitz in Attika gehabt hatte,
so war der schluss einfach genug, ihn dort auch eine weile wohnhaft zu
denken. dass Herakles sich in Eleusis hat weihen lassen, ehe er in
die unterwelt hinabstieg, und zu dem behufe nicht nur von seinen blut-
taten in Athen entsühnt, sondern durch adoption zu einem Athener ge-
macht ist, hat ebenfalls in Attika officielle geltung gehabt 35). Euripides
erwähnt die weihung, und er durfte wahrscheinlich zu erfinden glauben,
da auch sein Herakles in Athen entsühnt wird und in Athen sich nieder-
lässt. übrigens fällt das etwa anstössige jenseits des rahmens der tragödie.
wirksam für sie ist nicht das eingreifen des Atheners, sondern das des
freundes. in dieser eigenschaft ist Theseus an die stelle des Iolaos ge-
treten, der in der thebanischen vorstellung nicht nur überhaupt diese
rolle spielt, sondern gerade die Megara übernimmt, als Herakles aus dem
vaterlande scheiden muss, nach antiker vorstellung ein freundschaftsdienst,
der beide teile ehrt 36). den konnte Euripides seinen Theseus nicht auch

konnte er unmöglich ausnehmen, er musste ja ihre stiftung im verlauf der chronik
selbst erzählen.
35) Aph ou katharmos proton egeneto phonou, proton Athenaion katheran-
ton Eraklea ist die 17. epoche der parischen chronik. das gibt anlass zu den
kleinen mysterien, Diodor IV 14 in Agrai, oder in Melite (Thesmophorien, schol. Ar.
Frö. 501), oder Eumolpos reinigt ihn, also in Eleusis, Apollodor II 5, 12. zugleich
ist er der erste geweihte ausländer, und es vollzieht deshalb Pylios die adoption,
so auch Plut. Thes. 33 und schon Speusippos an Philipp (630 Herch.); andere
parallelstellen z. b. bei Dettmer de Hercule Att. 66. der name mahnt daran, dass
der zug gegen Pylos mit der weigerung der blutsühne durch Neleus motivirt zu
werden pflegt. in der apollodorischen chronik ist die verbindung mit der Hades-
fahrt hergestellt, und dass er nur als myste zu ihr kraft fand, steht ausser bei Eurip.
617 in dem dialog Axiochos 371d: die vorstellung wird jedem leser der aristopha-
nischen Frösche klar sein. der gläubige myste konnte sich den, welcher das jenseits
ungestraft betreten hatte, nur auch als mysten denken: und da er das bedürfnis nach
reinigung auch für gerecht vergossenes blut empfand und seine religion sie von
ihm forderte, wie viel mehr für den heros. drittens wollte man in dem so viel in
Athen verehrten heros keinen fremden sehen. der nämliche grund hat die adoption
der Dioskuren hervorgebracht.
36) Dass jemand auf dem totenbette seine frau oder tochter einem der erben
vermacht, ist ebenso häufig vorgekommen wie es in den anschauungen von familie
und ehe begründet ist. so hat es z. b. der vater des Demosthenes gemacht. es
ist also für die Athener ganz in der ordnung, dass Herakles in den Trachinierinnen
des Sophokles den Hyllos zwingt seine kebse zu heiraten. der moderne sollte sich
daran nicht mehr stossen, als dass z. b. Antigone zum zweiten male die leiche ihres

Gestaltung des stoffes.
officielle erklärung dafür, daſs der dorische heros allerorten, der stifter
der attischen demokratie nirgend einen alten cult besaſs. wenn aber
Herakles bei lebzeiten einen so groſsen besitz in Attika gehabt hatte,
so war der schluſs einfach genug, ihn dort auch eine weile wohnhaft zu
denken. daſs Herakles sich in Eleusis hat weihen lassen, ehe er in
die unterwelt hinabstieg, und zu dem behufe nicht nur von seinen blut-
taten in Athen entsühnt, sondern durch adoption zu einem Athener ge-
macht ist, hat ebenfalls in Attika officielle geltung gehabt 35). Euripides
erwähnt die weihung, und er durfte wahrscheinlich zu erfinden glauben,
da auch sein Herakles in Athen entsühnt wird und in Athen sich nieder-
läſst. übrigens fällt das etwa anstöſsige jenseits des rahmens der tragödie.
wirksam für sie ist nicht das eingreifen des Atheners, sondern das des
freundes. in dieser eigenschaft ist Theseus an die stelle des Iolaos ge-
treten, der in der thebanischen vorstellung nicht nur überhaupt diese
rolle spielt, sondern gerade die Megara übernimmt, als Herakles aus dem
vaterlande scheiden muſs, nach antiker vorstellung ein freundschaftsdienst,
der beide teile ehrt 36). den konnte Euripides seinen Theseus nicht auch

konnte er unmöglich ausnehmen, er muſste ja ihre stiftung im verlauf der chronik
selbst erzählen.
35) Ἀφ̕ οὑ καϑαρμὸς πρῶτον ἐγένετο φόνου, πρώτων Ἀϑηναίων καϑηράν-
των Ἡρακλἑα ist die 17. epoche der parischen chronik. das gibt anlaſs zu den
kleinen mysterien, Diodor IV 14 in Agrai, oder in Melite (Thesmophorien, schol. Ar.
Frö. 501), oder Eumolpos reinigt ihn, also in Eleusis, Apollodor II 5, 12. zugleich
ist er der erste geweihte ausländer, und es vollzieht deshalb Pylios die adoption,
so auch Plut. Thes. 33 und schon Speusippos an Philipp (630 Herch.); andere
parallelstellen z. b. bei Dettmer de Hercule Att. 66. der name mahnt daran, daſs
der zug gegen Pylos mit der weigerung der blutsühne durch Neleus motivirt zu
werden pflegt. in der apollodorischen chronik ist die verbindung mit der Hades-
fahrt hergestellt, und daſs er nur als myste zu ihr kraft fand, steht auſser bei Eurip.
617 in dem dialog Axiochos 371d: die vorstellung wird jedem leser der aristopha-
nischen Frösche klar sein. der gläubige myste konnte sich den, welcher das jenseits
ungestraft betreten hatte, nur auch als mysten denken: und da er das bedürfnis nach
reinigung auch für gerecht vergossenes blut empfand und seine religion sie von
ihm forderte, wie viel mehr für den heros. drittens wollte man in dem so viel in
Athen verehrten heros keinen fremden sehen. der nämliche grund hat die adoption
der Dioskuren hervorgebracht.
36) Daſs jemand auf dem totenbette seine frau oder tochter einem der erben
vermacht, ist ebenso häufig vorgekommen wie es in den anschauungen von familie
und ehe begründet ist. so hat es z. b. der vater des Demosthenes gemacht. es
ist also für die Athener ganz in der ordnung, daſs Herakles in den Trachinierinnen
des Sophokles den Hyllos zwingt seine kebse zu heiraten. der moderne sollte sich
daran nicht mehr stoſsen, als daſs z. b. Antigone zum zweiten male die leiche ihres
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0379" n="359"/><fw place="top" type="header">Gestaltung des stoffes.</fw><lb/>
officielle erklärung dafür, da&#x017F;s der dorische heros allerorten, der stifter<lb/>
der attischen demokratie nirgend einen alten cult besa&#x017F;s. wenn aber<lb/>
Herakles bei lebzeiten einen so gro&#x017F;sen besitz in Attika gehabt hatte,<lb/>
so war der schlu&#x017F;s einfach genug, ihn dort auch eine weile wohnhaft zu<lb/>
denken. da&#x017F;s Herakles sich in Eleusis hat weihen lassen, ehe er in<lb/>
die unterwelt hinabstieg, und zu dem behufe nicht nur von seinen blut-<lb/>
taten in Athen entsühnt, sondern durch adoption zu einem Athener ge-<lb/>
macht ist, hat ebenfalls in Attika officielle geltung gehabt <note place="foot" n="35)">&#x1F08;&#x03C6;&#x0315; &#x03BF;&#x1F51; &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B1;&#x03C1;&#x03BC;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C0;&#x03C1;&#x1FF6;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F10;&#x03B3;&#x03AD;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C4;&#x03BF; &#x03C6;&#x03CC;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C5;, &#x03C0;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C4;&#x03C9;&#x03BD; &#x1F08;&#x03D1;&#x03B7;&#x03BD;&#x03B1;&#x03AF;&#x03C9;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B7;&#x03C1;&#x03AC;&#x03BD;-<lb/>
&#x03C4;&#x03C9;&#x03BD; &#x1F29;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BA;&#x03BB;&#x1F11;&#x03B1; ist die 17. epoche der parischen chronik. das gibt anla&#x017F;s zu den<lb/>
kleinen mysterien, Diodor IV 14 in Agrai, oder in Melite (Thesmophorien, schol. Ar.<lb/>
Frö. 501), oder Eumolpos reinigt ihn, also in Eleusis, Apollodor II 5, 12. zugleich<lb/>
ist er der erste geweihte ausländer, und es vollzieht deshalb Pylios die adoption,<lb/>
so auch Plut. Thes. 33 und schon Speusippos an Philipp (630 Herch.); andere<lb/>
parallelstellen z. b. bei Dettmer <hi rendition="#i">de Hercule Att.</hi> 66. der name mahnt daran, da&#x017F;s<lb/>
der zug gegen Pylos mit der weigerung der blutsühne durch Neleus motivirt zu<lb/>
werden pflegt. in der apollodorischen chronik ist die verbindung mit der Hades-<lb/>
fahrt hergestellt, und da&#x017F;s er nur als myste zu ihr kraft fand, steht au&#x017F;ser bei Eurip.<lb/>
617 in dem dialog Axiochos 371<hi rendition="#sup">d</hi>: die vorstellung wird jedem leser der aristopha-<lb/>
nischen Frösche klar sein. der gläubige myste konnte sich den, welcher das jenseits<lb/>
ungestraft betreten hatte, nur auch als mysten denken: und da er das bedürfnis nach<lb/>
reinigung auch für gerecht vergossenes blut empfand und seine religion sie von<lb/>
ihm forderte, wie viel mehr für den heros. drittens wollte man in dem so viel in<lb/>
Athen verehrten heros keinen fremden sehen. der nämliche grund hat die adoption<lb/>
der Dioskuren hervorgebracht.</note>. Euripides<lb/>
erwähnt die weihung, und er durfte wahrscheinlich zu erfinden glauben,<lb/>
da auch sein Herakles in Athen entsühnt wird und in Athen sich nieder-<lb/>&#x017F;st. übrigens fällt das etwa anstö&#x017F;sige jenseits des rahmens der tragödie.<lb/>
wirksam für sie ist nicht das eingreifen des Atheners, sondern das des<lb/>
freundes. in dieser eigenschaft ist Theseus an die stelle des Iolaos ge-<lb/>
treten, der in der thebanischen vorstellung nicht nur überhaupt diese<lb/>
rolle spielt, sondern gerade die Megara übernimmt, als Herakles aus dem<lb/>
vaterlande scheiden mu&#x017F;s, nach antiker vorstellung ein freundschaftsdienst,<lb/>
der beide teile ehrt <note xml:id="note-0379a" next="#note-0380" place="foot" n="36)">Da&#x017F;s jemand auf dem totenbette seine frau oder tochter einem der erben<lb/>
vermacht, ist ebenso häufig vorgekommen wie es in den anschauungen von familie<lb/>
und ehe begründet ist. so hat es z. b. der vater des Demosthenes gemacht. es<lb/>
ist also für die Athener ganz in der ordnung, da&#x017F;s Herakles in den Trachinierinnen<lb/>
des Sophokles den Hyllos zwingt seine kebse zu heiraten. der moderne sollte sich<lb/>
daran nicht mehr sto&#x017F;sen, als da&#x017F;s z. b. Antigone zum zweiten male die leiche ihres</note>. den konnte Euripides seinen Theseus nicht auch<lb/><note xml:id="note-0379" prev="#note-0378" place="foot" n="34)">konnte er unmöglich ausnehmen, er mu&#x017F;ste ja ihre stiftung im verlauf der chronik<lb/>
selbst erzählen.</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0379] Gestaltung des stoffes. officielle erklärung dafür, daſs der dorische heros allerorten, der stifter der attischen demokratie nirgend einen alten cult besaſs. wenn aber Herakles bei lebzeiten einen so groſsen besitz in Attika gehabt hatte, so war der schluſs einfach genug, ihn dort auch eine weile wohnhaft zu denken. daſs Herakles sich in Eleusis hat weihen lassen, ehe er in die unterwelt hinabstieg, und zu dem behufe nicht nur von seinen blut- taten in Athen entsühnt, sondern durch adoption zu einem Athener ge- macht ist, hat ebenfalls in Attika officielle geltung gehabt 35). Euripides erwähnt die weihung, und er durfte wahrscheinlich zu erfinden glauben, da auch sein Herakles in Athen entsühnt wird und in Athen sich nieder- läſst. übrigens fällt das etwa anstöſsige jenseits des rahmens der tragödie. wirksam für sie ist nicht das eingreifen des Atheners, sondern das des freundes. in dieser eigenschaft ist Theseus an die stelle des Iolaos ge- treten, der in der thebanischen vorstellung nicht nur überhaupt diese rolle spielt, sondern gerade die Megara übernimmt, als Herakles aus dem vaterlande scheiden muſs, nach antiker vorstellung ein freundschaftsdienst, der beide teile ehrt 36). den konnte Euripides seinen Theseus nicht auch 34) 35) Ἀφ̕ οὑ καϑαρμὸς πρῶτον ἐγένετο φόνου, πρώτων Ἀϑηναίων καϑηράν- των Ἡρακλἑα ist die 17. epoche der parischen chronik. das gibt anlaſs zu den kleinen mysterien, Diodor IV 14 in Agrai, oder in Melite (Thesmophorien, schol. Ar. Frö. 501), oder Eumolpos reinigt ihn, also in Eleusis, Apollodor II 5, 12. zugleich ist er der erste geweihte ausländer, und es vollzieht deshalb Pylios die adoption, so auch Plut. Thes. 33 und schon Speusippos an Philipp (630 Herch.); andere parallelstellen z. b. bei Dettmer de Hercule Att. 66. der name mahnt daran, daſs der zug gegen Pylos mit der weigerung der blutsühne durch Neleus motivirt zu werden pflegt. in der apollodorischen chronik ist die verbindung mit der Hades- fahrt hergestellt, und daſs er nur als myste zu ihr kraft fand, steht auſser bei Eurip. 617 in dem dialog Axiochos 371d: die vorstellung wird jedem leser der aristopha- nischen Frösche klar sein. der gläubige myste konnte sich den, welcher das jenseits ungestraft betreten hatte, nur auch als mysten denken: und da er das bedürfnis nach reinigung auch für gerecht vergossenes blut empfand und seine religion sie von ihm forderte, wie viel mehr für den heros. drittens wollte man in dem so viel in Athen verehrten heros keinen fremden sehen. der nämliche grund hat die adoption der Dioskuren hervorgebracht. 36) Daſs jemand auf dem totenbette seine frau oder tochter einem der erben vermacht, ist ebenso häufig vorgekommen wie es in den anschauungen von familie und ehe begründet ist. so hat es z. b. der vater des Demosthenes gemacht. es ist also für die Athener ganz in der ordnung, daſs Herakles in den Trachinierinnen des Sophokles den Hyllos zwingt seine kebse zu heiraten. der moderne sollte sich daran nicht mehr stoſsen, als daſs z. b. Antigone zum zweiten male die leiche ihres 34) konnte er unmöglich ausnehmen, er muſste ja ihre stiftung im verlauf der chronik selbst erzählen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/379
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/379>, abgerufen am 22.11.2024.