Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der Herakles des Euripides. verschiedensten versuche mit ihm gemacht. die stärke der individuellenpersönlichkeit, welche in diesem falle nötig gewesen wäre, hatte er aber für Sophokles und Euripides, so weit wir sie kennen, überhaupt nicht mehr. Euripides bedurfte also einer besondern person, die an wichtig- keit darum nichts einbüsst, dass ihre bedeutung nur relativ ist. er hat dazu Amphitryon gewählt, und alles getan, ihn zwar in seiner sphäre zu halten, aber so voll und rund herauszuarbeiten, dass sich der zuschauer diesen träger der umfänglichsten rolle wol gefallen lassen kann. Amphi- tryon ist zwar ehedem etwas gewesen; der ruhm seines Taphierzuges, der mit der geschichte von der erzeugung des Herakles zusammenhängt und deshalb allbekannt ist, wird mehrfach hervorgehoben; aber das dient nur dazu, dass uns der hilflose nicht verächtlich wird. jetzt ist er greis; er kennt das leben und macht sich keine illusionen mehr. er hat nichts mehr zu fordern noch zu erwarten, darum aber auch nichts für sich zu fürchten. er übersieht nicht bloss die schwiegertochter und den tyrannen, sondern auch die stürmische unbedachtsamkeit des sohnes. dieser sohn ist sein alles; schwiegertochter und enkel schätzt er nur um des sohnes willen, dem bleibt er auch auf die gefahr nahe, ein opfer seiner raserei zu werden. und seine schwerste prüfung ist der endliche abschied von ihm. dass er doch hoffen darf, dass die einzig geliebte hand ihm die müden augen zudrücken wird, wenn sie endlich brechen werden, ist der letzte trost, den der zuschauer aus dem drama mitnimmt. Amphitryon ist der vater des Herakles. das empfinden wir und sollen wir empfinden, trotzdem das drama auf die vaterschaft des Zeus häufig und schon in dem ersten verse hinweist. dieser mythos wird conventionell beibehalten, wird inner- lich zugleich gedeutet und beseitigt: und schliesslich spricht Herakles geradezu aus, dass Amphitryon sein vater ist, zu dem ja viel mehr die liebe macht als das blut. aber freilich, die grösse des sohnes ist gerade für den vater zu überwältigend, als dass er ihm innerlich einen halt geben oder gar ihn aufrichten könnte. gewohnt, dem willen des über- mächtigen sich zu fügen, hat er bei dem furchtbaren seelenkampfe des sohnes, den es zum selbstmorde zieht, nur ohnmächtige tränen. da ist eines ebenbürtigen eingreifen von nöten, eines solchen, den der mythos sich auch als göttersohn denkt. Den chor hat die spätere tragödie sich immer mehr erlaubt dem Der Herakles des Euripides. verschiedensten versuche mit ihm gemacht. die stärke der individuellenpersönlichkeit, welche in diesem falle nötig gewesen wäre, hatte er aber für Sophokles und Euripides, so weit wir sie kennen, überhaupt nicht mehr. Euripides bedurfte also einer besondern person, die an wichtig- keit darum nichts einbüſst, daſs ihre bedeutung nur relativ ist. er hat dazu Amphitryon gewählt, und alles getan, ihn zwar in seiner sphäre zu halten, aber so voll und rund herauszuarbeiten, daſs sich der zuschauer diesen träger der umfänglichsten rolle wol gefallen lassen kann. Amphi- tryon ist zwar ehedem etwas gewesen; der ruhm seines Taphierzuges, der mit der geschichte von der erzeugung des Herakles zusammenhängt und deshalb allbekannt ist, wird mehrfach hervorgehoben; aber das dient nur dazu, daſs uns der hilflose nicht verächtlich wird. jetzt ist er greis; er kennt das leben und macht sich keine illusionen mehr. er hat nichts mehr zu fordern noch zu erwarten, darum aber auch nichts für sich zu fürchten. er übersieht nicht bloſs die schwiegertochter und den tyrannen, sondern auch die stürmische unbedachtsamkeit des sohnes. dieser sohn ist sein alles; schwiegertochter und enkel schätzt er nur um des sohnes willen, dem bleibt er auch auf die gefahr nahe, ein opfer seiner raserei zu werden. und seine schwerste prüfung ist der endliche abschied von ihm. daſs er doch hoffen darf, daſs die einzig geliebte hand ihm die müden augen zudrücken wird, wenn sie endlich brechen werden, ist der letzte trost, den der zuschauer aus dem drama mitnimmt. Amphitryon ist der vater des Herakles. das empfinden wir und sollen wir empfinden, trotzdem das drama auf die vaterschaft des Zeus häufig und schon in dem ersten verse hinweist. dieser mythos wird conventionell beibehalten, wird inner- lich zugleich gedeutet und beseitigt: und schlieſslich spricht Herakles geradezu aus, daſs Amphitryon sein vater ist, zu dem ja viel mehr die liebe macht als das blut. aber freilich, die gröſse des sohnes ist gerade für den vater zu überwältigend, als daſs er ihm innerlich einen halt geben oder gar ihn aufrichten könnte. gewohnt, dem willen des über- mächtigen sich zu fügen, hat er bei dem furchtbaren seelenkampfe des sohnes, den es zum selbstmorde zieht, nur ohnmächtige tränen. da ist eines ebenbürtigen eingreifen von nöten, eines solchen, den der mythos sich auch als göttersohn denkt. 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Der Herakles des Euripides.
verschiedensten versuche mit ihm gemacht. die stärke der individuellen
persönlichkeit, welche in diesem falle nötig gewesen wäre, hatte er aber
für Sophokles und Euripides, so weit wir sie kennen, überhaupt nicht
mehr. Euripides bedurfte also einer besondern person, die an wichtig-
keit darum nichts einbüſst, daſs ihre bedeutung nur relativ ist. er hat
dazu Amphitryon gewählt, und alles getan, ihn zwar in seiner sphäre zu
halten, aber so voll und rund herauszuarbeiten, daſs sich der zuschauer
diesen träger der umfänglichsten rolle wol gefallen lassen kann. Amphi-
tryon ist zwar ehedem etwas gewesen; der ruhm seines Taphierzuges,
der mit der geschichte von der erzeugung des Herakles zusammenhängt
und deshalb allbekannt ist, wird mehrfach hervorgehoben; aber das dient
nur dazu, daſs uns der hilflose nicht verächtlich wird. jetzt ist er greis;
er kennt das leben und macht sich keine illusionen mehr. er hat nichts
mehr zu fordern noch zu erwarten, darum aber auch nichts für sich zu
fürchten. er übersieht nicht bloſs die schwiegertochter und den tyrannen,
sondern auch die stürmische unbedachtsamkeit des sohnes. dieser sohn
ist sein alles; schwiegertochter und enkel schätzt er nur um des sohnes
willen, dem bleibt er auch auf die gefahr nahe, ein opfer seiner raserei
zu werden. und seine schwerste prüfung ist der endliche abschied von
ihm. daſs er doch hoffen darf, daſs die einzig geliebte hand ihm die müden
augen zudrücken wird, wenn sie endlich brechen werden, ist der letzte
trost, den der zuschauer aus dem drama mitnimmt. Amphitryon ist der
vater des Herakles. das empfinden wir und sollen wir empfinden, trotzdem
das drama auf die vaterschaft des Zeus häufig und schon in dem ersten
verse hinweist. dieser mythos wird conventionell beibehalten, wird inner-
lich zugleich gedeutet und beseitigt: und schlieſslich spricht Herakles
geradezu aus, daſs Amphitryon sein vater ist, zu dem ja viel mehr die
liebe macht als das blut. aber freilich, die gröſse des sohnes ist gerade
für den vater zu überwältigend, als daſs er ihm innerlich einen halt
geben oder gar ihn aufrichten könnte. gewohnt, dem willen des über-
mächtigen sich zu fügen, hat er bei dem furchtbaren seelenkampfe des
sohnes, den es zum selbstmorde zieht, nur ohnmächtige tränen. da ist
eines ebenbürtigen eingreifen von nöten, eines solchen, den der mythos
sich auch als göttersohn denkt.
Den chor hat die spätere tragödie sich immer mehr erlaubt dem
alten pindarischen anzuähneln. er pflegt im laufe des dramas seine maske
fast ganz zu vergessen und lediglich das instrument zu sein, mit welchem
der dichter stimmungen betrachtungen erzählungen vorträgt, welche er
an den ruhepunkten seiner handlung für angemessen oder doch für zu-
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